Die Szene war unscheinbar. 11:39 Minuten standen im Schlussdrittel auf der Uhr, als sich Moritz Müller vor das gegnerische Tor schlich und einen Schuss seines Kollegen Justin Schütz abfälschen wollte. Klappen wollte das - wie so vieles bei den Kölner Haien am Mittwoch - allerdings nicht. Müller verfehlte den Puck knapp, Gefahr keimte keine auf. Wieder nicht. Vereinzelte Zuschauer hatten mit diesem Versuch bereits genug und traten ernüchtert den Heimweg an. Zu aussichtslos war das Resultat.
Bleibt die Legende unvollendet?
0:5 hieß es zu diesem Zeitpunkt. Die Eisbären Berlin zerlegten die Domstädter in der DEL-Finalserie erneut, spielten den Gegner mit einer fast schon beängstigenden Dominanz an die Wand und ließen selbst Müller etwas ratlos zurück. “Berlin spielt seinen Stiefel mit allen Mann einfach konsequent durch”, sagte der 38 Jahre alte Verteidiger. “Sie machen nichts Besonderes, aber das ist das Gute daran. Es ist extrem effektiv, alle machen das Gleiche gleich gut.” Und auf diese zermürbende Art und Weise wahrscheinlich Müllers großen Traum kaputt.
Bleibt Müller der Unvollendete?
Am Ende zeigte der Videowürfel in der mit 18.600 Zuschauern ausverkauften Kölner Arena - wie schon zwei Tage zuvor - ein 0:7 an. Damit fehlt den Berlinern nur noch ein Sieg, um nach 2024, 2022 und 2021 erneut Deutscher Meister zu werden. Aber was des einen Freud, ist des anderen bekanntlich Leid. Für alle Daumendrücker der Haie sowieso, die seit Jahrzehnten auf einen solchen Moment warten. Vor allem jedoch für Kapitän Müller, der nie einen Pokal in die Höhe reckte und seine Schlittschuhe eines Tages als Unvollendeter an den Nagel zu hängen droht.
Denn im fortgeschrittenen Sportleralter bleiben nicht mehr unendlich viele Jahre, um das zu ändern. Vielleicht sahen die Fans, die am Mittwoch 11:39 Minuten vor Schluss gingen, Müller gar schon zum letzten Mal in einem Playoff-Heimspiel der Haie in Aktion. Die Story vom Meistertitel in diesem Jahr wäre perfekt gewesen. Eine, die einem Typen wie ihm würdig ist. Allerdings deutet immer weniger darauf hin, dass sie so geschrieben wird und eine deutsche Sportlegende auch die Krönung erhält, die sie verdienen würde. Für seine Karriere und für vieles andere. Anekdoten gibt es zahlreiche.
Ein einzigartiger Weg zum Eishockey-Profi
Schon während der Kindheit flog Müller, dessen Mutter an Krebs starb, als er vier Jahre alt war, nichts zu. Sein Vater fuhr nachts Taxi, der kleine Moritz war viel auf sich allein gestellt - später wanderte das Vater-Sohn-Duo nach Frankreich aus, drei Jahre danach ging es nach Kassel. Immer dabei: sein Ehrgeiz und die Freude am Eishockey. Mit 15 Jahren erfuhr Moritz von einem Teamkollegen, dass es bei den Lausitzer Füchsen in Weißwasser ein Probetraining gab. Er überzeugte, durfte bleiben - und überwarf sich mit seinem Trainer.
Dieser wollte ihn in die dritte Reihe verbannen, was dem jungen Müller gar nicht passte. Der Ausweg sollte ein weiteres Probetraining sein, diesmal bei den Kölner Haien. Noch bevor er wusste, ob er in der Domstadt einen Platz bekommen würde, ging er ins Risiko und verabschiedete er sich aus Weißwasser. Doch er schaffte es wieder, wieder auf eigene Faust. Nur um das Drumherum musste sich Müller auf Biegen und Brechen selbst kümmern. Erst kam er in einer Jugendherberge unter, später in einer Wohnung über dem Fanshop am Trainingszentrum. Dort besserte er als Verkäufer sein Taschengeld auf.
Der Lohn: Müller schaffte 2003 den Sprung zu den Profis - aber damit nicht genug. Schnell zeigte sich, dass der gebürtige Frankfurter mehr als nur ein Verteidiger ist. Er wurde zur Identifikationsfigur, zum Kapitän, zum Gesicht der Haie. Und zu einem, der kein Blatt vor den Mund nahm. Müller griff Teams an, die mit eingedeutschten Spielern die Ausländerregel der DEL umgingen. Er schimpfte über Medien, die nur über Fußball berichteten und gründete die Spielergewerkschaft, um selbst etwas zu bewegen.
Noch ist Müller titellos
Viel passierte in seiner Karriere. So viel, dass der Streaming-Sender Magentasport zu seinem 1000. DEL-Spiel einen Film drehte. Der Titel: „Nichts geschenkt. Alles verdient“. Ein Porträt über einen Spieler, der härter als viele andere arbeitete, aber auch seine emotionale Seite nicht verbirgt. Als es um seine Kindheit ging, kamen ihm die Tränen. Für den Sport stellte er alles hinten an, viel rentierte sich im Laufe der Jahre. Inzwischen steht Müller bei 1128 Partien, die er in 22 Saisons allesamt für Köln bestritt. Seinem Herzensverein ist er auch in schwierigen Zeiten treu geblieben - mit einem Schönheitsfehler.
In den vergangenen 21 Spielzeiten blieben die Haie allesamt ohne Titel. Zuletzt wurden die Rheinländer 2002 Meister, ein Jahr, bevor Müller zu den Profis wechselte. Dafür war er bei den drei schmerzhaften Finalniederlagen 2008, 2013 und 2014 mit an Bord - dreimal dem Pokal so nahe, dreimal nahmen ihn andere mit nach Hause. Dazu die verlorenen Endspiele bei Olympia 2018 und der WM 2023 mit der deutschen Nationalmannschaft, die zu Recht als große Erfolge gewertet wurden, aber eben keine Titel waren. Es schien, als könne er seine Karriere nicht mehr krönen.
Und auch diesmal deutet wenig auf ein Happy End hin, obwohl sich der achtmalige Meister zunächst in der Außenseiterrolle wohl fühlte. Als Sechster der Hauptrunde schmiss Köln die drittplatzierten Pinguins Bremerhaven und Vorrundenprimus Ingolstadt raus - die Sehnsucht nach dem Triumph wuchs rasant. Ein gutes Omen half dabei: Schon bei den letzten beiden Meisterschaften 1995 und 2002 war man als Sechster in die Playoffs gestartet. Doch eine Wiederholung des positiven Endes wirkt nach der erneuten Klatsche am Mittwoch fast unmöglich. Keine weitere Pleite dürfte mehr folgen.
Müller: “Wir haben noch eine Kugel übrig”
„Ich lebe im Moment. Natürlich sind wir im Moment nicht da, wo wir sein wollen. Vor allem die letzten beiden Spiele waren nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben. Aber wir können nur im Moment leben. Wir müssen aufstehen und im nächsten Spiel bei Null anfangen“, versuchte Müller seinen Optimismus zu bewahren: „Wir haben uns das ganze Jahr als Team und als Stehaufmännchen präsentiert. Heute ist uns das nicht gelungen. Trotzdem haben wir noch eine Kugel übrig und wollen nicht, dass das nächste Spiel das letzte ist.“
Aber was ist, wenn doch? Dann wäre Müller, der neben seinen 22 Spielzeiten bei den Kölnern die deutsche Nationalmannschaft bei zwölf Weltmeisterschaften und zwei Olympischen Spielen vertrat, weiterhin eine Legende seines Sports - nur vielleicht eine für immer ungekrönte. „Es geht hier nicht um mich. Ich möchte nicht, dass die Geschichte so aufgezogen wird“, betonte er schon vor Beginn der Finalserie. Doch letztlich besitzt keiner so viel Strahlkraft wie er, die Geschichte schreibt sich - egal wie sie ausgeht - fast von selbst. Seine Zukunft ist schließlich ungewiss.
Nach dem Scheitern seines Teams in den Pre-Playoffs im Vorjahr stellte Müller sein Karriereende zum Ende der Saison 2024/25 in Aussicht. Dann läuft sein Vertrag aus. Dass er sich inzwischen vorstellen kann, noch ein Jahr dranzuhängen, wenn beide Parteien das wollen, ist kein Geheimnis. Auch auf Olympia 2026 schielt er ein wenig, sicher ist allerdings nichts.
Heute Abend, wenn die Haie im fünften Spiel auf die Eisbären treffen und verlieren sollten, könnte auch Müllers Story auserzählt sein.