Perfekte Flanke von Adam Karabec, unhaltbarer Kopfball von Davie Selke: Die Co-Produktion der Hamburger Einwechselspieler bescherte dem HSV am Samstagabend in der 95. Minute nach 0:2-Rückstand ein verdientes Unentschieden beim 1. FC Kaiserslautern. Aus Neuzugang Selke brach es beim anschließenden Jubellauf vor die Gästekurve förmlich heraus.
Ein fettes Bewerbungsschreiben
„Geil, geil! Es ist überragend, wenn man das Ding macht. Es gibt nichts Besseres“, war Selke auch einige Minuten nach dem Schlusspfiff noch euphorisiert, als er in der Mixed Zone über den Spielverlauf sprach. „Man sieht bei den Jungs, die reinkommen, dass sie alle gerne von Anfang an spielen wollen“ – auch er. Die Qualität von der Bank werde noch die ganze Saison über ein Faustpfand sein, um das große Ziel Aufstieg zur Realität werden zu lassen.
Dennoch betonte Selke auch deutlich, dass er sich eher früher als später bereits zu Beginn des Spiels auf dem Feld sieht. „Ich will immer von Anfang an spielen, wie jeder andere Spieler auch. Ich gebe mein Bestes und dann schauen wir mal“, sagte er bei SPORT1.
Eine Karriere voller Höhen und Tiefen
Demütige Worte eines Stürmers, der im Alter von immer noch erst 29 Jahren vermeintlich schon alles gesehen hat, was die Fußballwelt zu bieten hat. Als eine der großen deutschen Sturmhoffnungen wechselte er 2015 für acht Millionen Euro von Werder Bremen zu RB Leipzig. Sein Transfer zum viel diskutierten Emporkömmling wurde von vielen Störgeräuschen begleitet – wie es bereits der Fall war, als er aus der Jugend der TSG Hoffenheim zu Werder gewechselt war.
Neun Jahre später, als er im vergangenen Sommer mit dem 1. FC Köln in die 2. Liga abstieg und sich danach dem Ligakonkurrenten anschloss, verhielt es sich ähnlich. Eine Vertragsverlängerung scheiterte dem Vernehmen nach daran, dass keine finanzielle Einigung erzielt werden konnte. Selke wechselte zum HSV – und stichelte danach in den sozialen Medien gegen seinen Ex-Klub.
Viel war in den vergangenen zehn Jahren passiert! 2014 gewann Selke mit der U19 des DFB die Europameisterschaft. Mit sechs Treffern wurde er sogar Torschützenkönig. Drei Jahre später folgte der Triumph mit der U21 unter dem Trainer (und heutigen HSV-Sportvorstand) Stefan Kuntz – erneut hatte Selke über weite Teile des Turniers eine prägende Rolle inne.
Davie Selkes umstrittenes Image
Dass das EM-Halbfinale am 27. Juni 2017 sein (bisher) letzter Einsatz für den deutschen Fußballverband sein sollte, hat vielerlei Gründe. Nach dem Aufstieg mit Leipzig 2016 kam Selke in der Bundesliga nicht über die Reservistenrolle hinaus. Es folgte ein Neuanfang bei Hertha BSC, dem Hauptstadtklub blieb er mit Leihunterbrechungen bis 2023 treu. Immerhin zehn Treffer erzielte er 2017/18, diese Marke sollte er im Oberhaus nicht mehr erreichen. Mit Werder zitterte er sich 2020 durch die Relegation, wurde in der entscheidenden Phase jedoch nicht mehr eingesetzt.
2021 ging es dann doch mit Werder in Liga zwei, Selke blieb als Ergänzungsspieler bei der Hertha erstklassig. Am besten lief es danach noch in der vergangenen Saison beim FC, ehe er große Teile der Rückrunde mit einer Fußverletzung verpasste. Ständiger Wegbegleiter seiner Karriere war das bei vielen negativ wahrgenommene Bild, das er auf dem Rasen abgab: Reibereien mit Gegenspielern, Provokationen beim Torjubel und ein vermeintlich arrogantes Auftreten.
„Mir waren und sind Pfiffe egal. Ich bin, wie ich bin, das werde ich mit knapp 30 auch nicht mehr ändern. Wenn ich ehrlich bin: Ich will das gar nicht ändern“, sagte er zuletzt in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt und stellte klar: „Ich weiß, dass ich so ankomme, wie ich ankomme. Viele sagen mir, dass ich ja gar nicht so ein Arschloch, so ein Depp, so ein arroganter Typ sei, wie sie dachten.“ Dies komme „vielleicht daher, dass mich die Leute sonst nur vom Fußballplatz kennen. Und da agiere ich oft an der Grenze.“
Führungsspieler mit Vorbildfunktion: Lob von Kapitän und Trainer
Das Stimmungsbild war auch unter den Hamburger Fans sehr gemischt, als sich Selke den Rothosen anschloss. Nun ist es allerdings recht eindeutig. Selke durfte zwar erst einmal von Beginn an ran, stellte sich ansonsten allerdings stets in den Dienst der Mannschaft. Das kommt an, wie alle Beteiligten nach dem Drama auf dem Betzenberg positiv hervorhoben. Und was sich auch beim Jubel mit den Anhängern zeigte.
„Er geht voran - auch unter der Woche. Er ist definitiv ein Führungsspieler. Er will immer, dass wir arbeiten und zeigt das auch selbst“, schwärmte Kapitän Sebastian Schonlau. Und auch Trainer Steffen Baumgart brach auf Nachfrage von SPORT1 eine Lanze für Selke: „Dass Davie für uns eine wichtige Personalie ist, haben wir immer wieder betont.“ Die Situation sei derzeit nicht leicht für den „Vollblutspieler und Vollblutprofi“, er nehme sie aber „sehr gut“ an.
Umso positiver stelle sich Selkes Verhalten abseits des Platzes dar: „Viel schöner ist, wenn Sie ihn in der Kabine erleben, wenn Sie ihn erleben, wenn er nicht von Anfang an spielt, wenn er im Training Gas gibt. Das sind die Dinge, die eine Mannschaft braucht“, lobte Baumgart. „Deshalb haben wir ihn auch geholt. Davie ist ein sehr gutes Beispiel, dass es nicht um die erste Elf geht, sondern um alle.“
Karabec, Jean-Luc Dompé, Ludovit Reis oder eben auch Selke – die Waffen, über die der HSV derzeit auf der Bank verfügt, suchen in der 2. Bundesliga ihresgleichen. Angeführt von Selke, der nach 15 Minuten gegen Regensburg auf dem Betzenberg eine halbe Stunde ran durfte – und nach Einschätzung von SPORT1-Experte Markus Babbel „ein Bewerbungsschreiben“ abgegeben hat, um künftig bereits zu Spielbeginn eine hochklassige Doppelspitze mit Robert Glatzel zu bilden. Und den HSV im verflixten siebten Jahr endlich wieder in die Bundesliga zu führen.