Im Gespräch mit Huub Stevens wird klar: Der 71 Jahre alte „Knurrer aus Kerkrade“ hat nichts von seiner Meinungsschärfe verloren.
„Es war einfach nur schrecklich“
SPORT1 traf Schalkes Jahrhunderttrainer in seinem Haus in Eindhoven. Stevens spricht im Interview (hier geht es zum ersten Teil) über seinen bittersten Moment, seine Sicht auf Sebastian und Dieter Hoeneß – und gesteht einen Fehler ein, den er bis heute nicht vergessen hat.
SPORT1: Herr Stevens, Kees van Wonderen sagte nach dem 2:2 von Schalke 04 gegen den HSV spät am Abend: „Für mich ist klar, dass ich nach dieser Saison nicht mehr hier bin. Alle Signale sprechen dafür. Wenn wir auf demselben Weg wären, würde man sich besser austauschen. Aber das ist nicht der Fall.“ Sie haben ihm im ersten Teil des Interviews bei SPORT1 den Rücken gestärkt – was sagen Sie jetzt?
Stevens: Ich verstehe die Sache mit Kees nicht. Ich finde es sehr schade, dass er im Sommer gehen muss. Der Umgang mit ihm war einfach nicht in Ordnung – da tut er mir wirklich leid. Kees würde so etwas nicht einfach sagen, wenn es nicht feststünde, dass er nächste Saison nicht mehr dabei ist. Das ist wirklich schade, ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. So etwas muss man doch auf eine andere Weise klären. Da sieht man wieder, wie viel Unruhe in diesem Verein herrscht. Ich hoffe sehr, dass Frank (Schalkes neuer Boss Frank Baumann, d. Red.) es schafft, endlich Ruhe in den Klub zu bringen – so kann es jedenfalls nicht weitergehen.
Stevens: „Es war einfach nur schrecklich“
SPORT1: Was war für Sie ein typischer Huub-Moment auf Schalke?
Stevens: Boah. Es gab viele schöne Huub-Momente auf Schalke. Ich denke gerne an die Augenblicke zurück, wenn ich mit Rudi (Assauer, d. Red.) unterwegs war. Ich erinnere mich genau, als wäre es gestern gewesen, was Rudi dann immer für Musik im Auto gehört hat. Er hat immer deutsche Schlagermusik gehört. Das war gar nicht meins. Aber ich habe mir das angehört, weil Rudi damit glücklich war. Ein weiterer Huub-Moment war der Umgang mit den Fans. Ich habe immer versucht, die Anhänger auf Schalke mitzunehmen. Ich war nahbar für die Fans. Sie sind unglaublich wichtig für einen Klub wie S04.
SPORT1: Einer der schlimmsten Huub-Momente war doch sicher 2001, als Schalke in letzter Sekunde die Meisterschaft entrissen wurde.
Stevens: Das stimmt. Es war einfach nur schrecklich. Diese vier Minuten, in denen in Hamburg noch gespielt wurde beim Spiel des HSV gegen den FC Bayern (der dann Deutscher Meister wurde, Anm. d. Red.), werde ich niemals vergessen. Heute kann ich darüber sprechen. Damals hatte ich unheimlich große Probleme damit. Aber ich musste mich auf das nächste Spiel konzentrieren – das war das Pokalfinale.
SPORT1: Was haben diese vier Minuten mit Ihnen gemacht?
Stevens: Sie haben mich richtig mitgenommen. Ich hätte Rudi so gerne die Meisterschale geschenkt. Er hätte sie verdient gehabt. Seine Schmerzen zu sehen, das fiel mir unheimlich schwer. Rudi hat gelitten wie ein Hund. Ich war nur einmal an seinem Grab, aber ich muss dort nicht sein – ich trage Rudi fest in meinem Herzen. Er hat mir ein neues Leben im Fußball geschenkt. In Deutschland als Trainer arbeiten zu dürfen, war eine riesige Chance für mich. Jeder weiß, was daraus geworden ist. Ohne Rudi wäre ich nicht der Huub Stevens, der ich heute bin.
SPORT1: Was passierte in der Nacht nach der verlorenen Meisterschaft?
Stevens: Wir haben all unsere Tränen in dieser Nacht vergossen. Ich habe damals meine Frau und die Kinder nach Hause geschickt und bin im Schloss Wittringen geblieben, wo ich während meiner ersten Zeit auf Schalke gewohnt habe. Erst am nächsten Tag bin ich nach Eindhoven zurückgekehrt. Ich wollte das ganz allein verarbeiten. Ich habe ein Glas Wein getrunken und die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: Wie kriege ich die Jungs bis zum Pokalfinale wieder hin? Wenn wir das auch noch verloren hätten – was wäre dann los gewesen?
Besonderes Stevens-Verhältnis zu Assauer
SPORT1: Und was passierte in der Nacht des UEFA-Pokal-Sieges?
Stevens: Wir haben es ordentlich krachen lassen. Am nächsten Tag haben wir im Parkstadion in Gelsenkirchen (heute Veltins-Arena, Anm. d. Red.) weiter gefeiert. Diese Party mit den Fans war unglaublich.
SPORT1: Waren Sie und Assauer ziemlich beste Freunde?
Stevens: Ja. Wir haben nicht nur zusammengearbeitet, sondern es ging um viel mehr als nur Fußball. Er hat mich auch hier in Eindhoven besucht, und dann haben wir über Gott und die Welt geredet. Meistens ging es bei uns aber doch um Fußball. (lacht) Ich hatte in Rudi wirklich einen Freund. Er war für mich nicht nur der Manager.
SPORT1: Was war besonders an dieser Freundschaft?
Stevens: Die Ehrlichkeit. Wir waren immer direkt und geradeheraus – auch hart in bestimmten Momenten. Aber wir waren ehrlich zueinander. Das gibt es heutzutage leider nicht mehr so oft.
„Charly war eine echte Kultfigur“
SPORT1: Fehlt einer wie Schalkes damaliger Team-Betreuer Charly Neumann heute im Fußball?
Stevens: Und wie. Charly war unglaublich. Er hatte das Herz am rechten Fleck und liebte Schalke über alles. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Begegnung mit ihm. Ich war damals Trainer von Roda Kerkrade, und wir spielten gegen Schalke. Da hatte ich Streit mit Charly – er war in der Nähe der Trainerbank und zögerte, den Ball zurückzugeben, der ins Aus gerollt war. Als ich später Trainer auf Schalke wurde, musste ich mir von ihm einiges anhören. (lacht) Charly war eine echte Kultfigur.
SPORT1: Jetzt sagen Sie selbst den Begriff.
Stevens: Ja, Charly oder Rudi waren Kultfiguren auf Schalke. Ich selbst sehe mich nicht als Kulttrainer, aber bei den beiden gibt es da keine Zweifel. Sie sind Kult. Sie hätten für Schalke ihr letztes Hemd gegeben und haben auch viel bewirkt. Dass andere mich als Kulttrainer bezeichnen, kann ich nachvollziehen.
Stevens lobt Sebastian Hoeneß
SPORT1: Was würden Sie jungen Trainern heute mitgeben?
Stevens: Bleibt euch selbst treu. Ich finde es zum Beispiel total schön, dass Sebastian Hoeneß so mit dem VfB Stuttgart verbunden ist. Momentan läuft es in der Liga nicht ganz rund, aber er hat aus dem VfB wieder einen vorzeigbaren Erstligisten gemacht. Er hat bisher sehr gute Arbeit geleistet. Ich freue mich wirklich für ihn. Sebastian verkörpert genau diese jungen Trainer, die ich mag.
SPORT1: Sie kennen sich aus Ihrer Zeit bei Hertha BSC…
Stevens: Ganz genau. Sebastian war damals in der zweiten Mannschaft, und ich war Trainer der Profis. Dieter (Hoeneß, d. Red.) war damals Manager bei Hertha. Und mein Sohn Maikel (heute als Berater tätig, d. Red.) spielte bei den Amateuren. Dass Sebastian heute beim VfB so ein Standing hat, finde ich super. Ich habe ihm damals auch gesagt: „Bleib bei dir selbst.“ Diesen wichtigen Rat gebe ich jedem Trainer mit. Wenn du mal einen Fehler machst, dann machst du ihn für dich selbst – und genau daraus lernst du. Als Trainer macht man ständig neue Fehler.
SPORT1: Hoeneß hat seine Treue zum VfB zuletzt nochmal mit seiner Unterschrift bis 2028 bekräftigt. Das ist selten im Fußballgeschäft.
Stevens: So kenne ich ihn. Und so kenne ich auch seinen Vater. Wenn sie eine Entscheidung getroffen haben, dann steht sie. Ich erinnere mich an einen besonderen Moment mit Dieter bei Hertha.
SPORT1: Und zwar?
Stevens: Er kam damals zu mir und sagte: „Ich weiß, dass es schwer ist, aber wir müssen getrennte Wege gehen.“ Das hat ihm leidgetan. Er hat das nicht nur gesagt, sondern auch gefühlt. Ich habe zu ihm gesagt: „Dieter, du kannst immer auf mich zählen.“ Wir sind als Freunde auseinandergegangen und sind es bis heute geblieben.
Stevens: „Ich habe zu schnell bei Hertha unterschrieben“
SPORT1: Gibt es eigentlich einen Satz, der Sie gut beschreibt – außer „Die Null muss stehen“?
Stevens: Nicht nur dieser Satz steht für mich, sondern auch: „Am Ball brauchst du Vertrauen.“ Nur so kann ein Spieler Entscheidungen treffen. Und genau das musst du als Trainer deinen Jungs mitgeben. Du verbringst mehr Zeit mit den Spielern als mit deiner eigenen Frau. Da kommt so viel zusammen. Als Trainer bist du eben auch Mensch. Mensch sein ist im Fußball enorm wichtig. Leider ist davon heute einiges verloren gegangen.
SPORT1: Welchen Fehler bereuen Sie?
Stevens: Ich bereue nicht viel in meinem Leben. Eine Sache vielleicht: Nachdem ich Schalke 2002 das erste Mal verlassen habe, habe ich zu schnell bei Hertha unterschrieben. Ich hätte noch etwas warten sollen. Aber als Dieter bei mir war, war ich sofort überzeugt. Ich konnte dort frei arbeiten, mein Sohn hat dort seine Frau kennengelernt – es war eine super Zeit. Dennoch denke ich heute: Ich hätte nach meiner ersten Zeit auf Schalke etwas Geduld haben sollen.