Ganz Fußball-Deutschland fiebert bereits dem 14. Juni entgegen. Dort startet die große Heim-EM, wenn die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ihr Auftaktspiel gegen Schottland bestreitet. Doch es wird nicht das erste Aufeinandertreffen der beiden Nationen sein, denn das Duell wird es auch schon zwölf Tage vorher geben.
Highlight für deutsche Krücken-Kicker
Vom 1. bis zum 8. Juni findet die Amputierten-Fußball-EM in Frankreich statt. Zum dritten Mal nach 2017 und 2021 treffen sich die besten Fußballer Europas, die eine Fehlbildung oder Amputation eines Körperteils aufweisen. Auch die deutsche Mannschaft hat sich zum dritten Mal qualifiziert.
Dabei spielen die Akteure aber nicht einfach mit Beinprothesen, sondern bewegen sich mithilfe von Krücken über den Platz. Bei den Krücken-Kickern, wie sie sich selbst bezeichnen, sind Beinprothesen sogar strikt verboten. Trotzdem herrscht ein ordentliches Tempo, die Spieler flitzen umher und setzen dabei auch durchaus kräftige Schüsse ab. Dafür stützen sie sich mit den Gehhilfen auf dem Boden ab und knallen den Ball mit ihrem einzigen Bein Richtung Tor.
Ralf Stellfeld freut sich auf Amputierten-EM
Um den optimalen Kader mit nach Frankreich zu nehmen, hat Nationaltrainer Klaudiusz Dittrich in den vergangenen Wochen zu mehreren Trainingslagern eingeladen, wo er die Spieler beobachten konnte. 14 Spieler haben es letztendlich in den finalen Kader geschafft und fahren gemeinsam zu dem Turnier in Evian. Das letzte Ticket löste dabei Ralf Stellfeld.
Der 43-Jährige war bereits im erweiterten Kader und rutschte dann auch ins EM-Aufgebot hinein, weil sich andere Spieler aus gesundheitlichen Gründen abmeldeten. „Ich habe mich unheimlich gefreut. Es stand bis zum letzten Trainingslager ein Fragezeichen zwischen mir und einem anderen Spieler. Am Ende habe ich mich aber durchgesetzt“, erzählt der Wolfenbütteler exklusiv bei SPORT1.
Für ihn ist es das erste große Turnier. Im vergangenen Jahr reiste er mit der Nationalmannschaft zwar schon einmal zur Nations League, aber eine Europameisterschaft sei nochmal ein ganz anderes Format.
Stellfeld musste das linke Bein amputiert werden, als er 1997 in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt war. 2018 begann er dann mit der neuen Sportart und spielt seitdem in der Amputierten-Bundesliga.
Dort waren bisher neben seiner Mannschaft von der SG Nord-Ost, die sich aus den Sportfreunden Braunschweig, dem HSV und Tennis Borussia Berlin zusammensetzt, noch drei weitere Mannschaften vertreten. Aktueller Deutscher Meister ist Fortuna Düsseldorf, außerdem sind der 1. FSV Mainz 05 und Anpfiff Hoffenheim dabei. Zur neuen Saison trennt sich die SG allerdings und Hamburg und Berlin stellen eigene Teams. Wo Stellfeld dann spielen wird, ist aktuell noch nicht klar.
Wolfenbütteler ist erster Beinamputierter im regulären Spielbetrieb
Doch er tritt nicht nur in der Amputierten-Liga an. Als erster Beinamputierter in Deutschland ist er zudem im regulären Spielbetrieb aktiv und kickt für die Ü40 der SG Braunschweig-West in der Kreisliga. Dort hat er vor einiger Zeit angefangen mitzutrainieren, weil ihm die Fahrt zum Training in Hamburg oder Berlin zu weit gewesen wäre.
Da er mit seinen neuen Mitspielern aber so gut harmonierte, beantragten sie einen Spielerpass für Stellfeld. Der Niedersächsische Fußballverband reagierte erst mit Vorsicht, stimmte dann allerdings zu. Seitdem ist er voll in der Mannschaft integriert und erzielte sogar bereits ein Tor. Die einzige Sonderregel ist, dass er den Ball nicht mit seinen Krücken berühren darf, sonst pfeift der Schiedsrichter Handspiel.
Und es läuft so erfolgreich, dass er mit seiner Mannschaft den Aufstieg geschafft hat. „Die Party verpasse ich dann aber wohl, weil ich ja in Frankreich bin“, erzählt er leicht traurig. Die EM-Teilnahme war ihm dann aber natürlich doch wichtiger.
Dafür traf er sich mit dem Kader am Freitagmorgen in Hoffenheim, von dort fahren sie gemeinsam nach Frankreich. Mit dabei ist mit Nicola Ross auch eine Spielerin. Aktuell gibt es noch fast keine Frauen-Nationalmannschaften in Europa, wodurch sie in den Männer-Mannschaften mitspielen dürfen.
„Da soll bis 2035 noch viel passieren, dass jedes Land eine Nationalmannschaft stellen kann, sowohl bei Frauen, als auch bei Männern. So soll es dann irgendwann auch olympisch werden“, verrät Stellfeld. Bis dahin freut er sich aber über eine Verstärkung in seiner Mannschaft: „Sie ist jung und unglaublich dynamisch“.
Deutschland startet gegen Schottland in das Turnier
Bereits am Sonntag (2. Juni), also zwei Tage nach der Anreise, findet dann um 13 Uhr das erste Spiel gegen Schottland statt. Ein vorheriges gemeinsames Training wird es nicht mehr geben. Am 3. Juni (11 Uhr gegen Griechenland) und 4. Juni (16 Uhr gegen Polen) folgen direkt die weiteren Gruppenspiele. Mit einem Tag Pause würden dann die weiteren Runden wieder täglich stattfinden. Alle Spiele können kostenlos auf dem YouTube-Kanal des Europäischen Fußballverbands für Amputierte geschaut werden.
Viel Vorbereitung hat die Mannschaft also nicht. Das wäre aber kein Problem: „Wir kennen uns ja aus den Jahren in der Bundesliga, wo wir immer wieder gegeneinander spielen“, meint Stellfeld.
In Frankreich müssen sie sich dann aber an eine Regeländerung gewöhnen. Während sich in der Bundesliga auf einem 40 mal 20 Meter großem Feld in einem fünf gegen fünf duelliert wird, erhöht sich die Mannschaftsgröße im internationalen Turnier auf ein sieben gegen sieben. Auch das Spielfeld wird auf 60 mal 40 Meter vergrößert.
Weitere Regeln beim Amputierten-Fußball sind, dass der Ball, wie bei Stellfeld im regulären Spielbetrieb, nicht mit den Krücken gespielt werden darf. Außerdem muss zwischen den Pfosten ein armamputierter beziehungsweise ein Spieler mit einer Fehlbildung am Arm stehen. Gespielt wird bei der EM zweimal 25 Minuten.
Türkei gilt als Titelfavorit
Als Favoriten gehen die Deutschen allerdings nicht in das Turnier. 2017 erreichten sie den achten Platz, 2021 landete Deutschland auf Platz neun und auch diesmal ist das Ziel erstmal klein: „Wir wollen die K.o.-Runde erreichen. Mit Platz sieben würden wir auch noch die direkte Qualifikation für die WM 2026 schaffen“, sagt Stellfeld. In der Gruppe kommen die zwei bestplatzierten Mannschaften weiter. Der Wolfenbütteler sieht hingegen die Türkei als Turnierfavoriten, die auch Welt- und Europameister sind.
Eine Portion Extramotivation gab es für die deutschen Spieler zudem auch noch vor einigen Tagen: Philipp Lahm sprach über die Amputierten-Fußballer und drücke ihnen „fest die Daumen. Der Amputierten-Fußball beeindruckt mich zutiefst. Es ist inspirierend zu sehen, wie diese Athleten Hindernisse überwinden und ihre Leidenschaft für den Sport leben“. Mit Mario Schmidt und Andre Becker sind zudem auch zwei deutsche Schiedsrichter bei der EM im Einsatz.