Joe Zinnbauer musste seine Profikarriere als Spieler bereits mit 26 Jahren beenden, kommt aber nun als Trainer trotzdem viel herum.
„Muss mich für Vertrag nicht schämen“
Nach seinem Engagement beim Hamburger SV in der Saison 2014/2015 trainierte er unter anderem den FC St. Gallen, die Orlando Pirates, Lokomotive Moskau, Raja Casablanca und Al-Wahda in Abu Dhabi. Seit Januar dieses Jahres ist er Cheftrainer des algerischen Fußballvereins JS Kabylie.
SPORT1: Herr Zinnbauer, würden Sie sich selbst als Weltenbummler bezeichnen?
Joe Zinnbauer: Ich habe mit dem Begriff kein Problem. Ich sehe mich nicht als Weltenbummler, sondern als Fußballtrainer. Ich war schon immer offen für neue Wege und verlasse gerne meine Komfortzone. Man entdeckt neue Wege, Sprachen und Kulturen. Menschen haben mich schon immer fasziniert. Es sind wertvolle Erfahrungen, die ich in den letzten Jahren sammeln durfte.
SPORT1: Wie blicken Sie auf Ihre Karriere zurück?
Zinnbauer: Nach meiner Zeit beim HSV bin ich in die Schweiz gewechselt, danach nach Afrika - das waren gute Entscheidungen. Ich konnte nicht nur im Fußball, sondern auch in vielen anderen Bereichen wertvolle Erfahrungen mitnehmen. Diese Erlebnisse möchte ich nicht missen. Eine Rückkehr nach Deutschland ergab sich bislang nicht, da die Angebote aus dem Ausland reizvoller waren und die Projekte sportlich gepasst haben.
SPORT1: Es gibt Stimmen, die Ihre Trainerkarriere als abenteuerlich bezeichnen.
Zinnbauer: Das kommt immer darauf an, in welcher Stadt man lebt und welche Aufgabe man übernimmt. Auch in anderen Berufen werden Menschen ins Ausland versetzt und arbeiten in großen Unternehmen. Johannesburg zum Beispiel ist eine tolle Stadt, auch wenn es dort gefährlich sein kann. Viele verbinden Afrika nur mit Elefanten, Tigern und roter Erde - es gibt dort aber auch hervorragende Restaurants und eine hohe Lebensqualität. Gleichzeitig bietet sich die Chance, Vereine und Spieler weiterzuentwickeln, was mich immer reizt. Wenn ein spannendes Projekt lockt, gehe ich gerne neue Wege. Ich habe mich selten von äußeren Einflüssen leiten lassen.
SPORT1: War Ihr Wechsel ins Ausland nach der HSV-Zeit eine Flucht?
Zinnbauer: Nein, ganz und gar nicht. Es gab Kontakte aus der Bundesliga, aber St. Gallen hat mich einfach gereizt. Ich kam vom KSC und dem HSV aus dem Jugendbereich, wir haben dort Spieler wie Hakan Çalhanoğlu nach oben gebracht. Auch andere Talente schafften damals beim HSV den Sprung in die erste Mannschaft. In St. Gallen war meine Aufgabe ähnlich: junge Spieler fördern. Das war für mich eine spannende Herausforderung. St. Gallen ist einer der ältesten Vereine Europas mit einer großen Fankultur, und auch die Stadt hat mir gefallen. Es war also keine Flucht, sondern eine bewusste Entscheidung für eine neue Herausforderung.
Schwere Zeit in Saudi-Arabien
SPORT1: In Saudi-Arabien haben Sie mehrere Monate kein Gehalt bekommen, richtig?
Zinnbauer: Ja, das stimmt. Bei Al-Wahda wollte man mich nicht gehen lassen, aber fünf Monate ohne Gehalt - man kann sich vorstellen, dass die Motivation bei Mannschaft und Staff immer geringer wurde. Ich habe meinen Vertrag gekündigt. Vorhin haben wir über Flucht gesprochen - das war tatsächlich eine.
SPORT1: Auch, weil Sie die langen Fahrten genervt haben?
Zinnbauer: Definitiv. Wir lebten in Jeddah, einer schönen Stadt, aber wir mussten jeden Tag 1 Stunde und 15 Minuten zum Klubgelände fahren. Bei Heimspielen waren es manchmal mit dem Mannschaftsbus bis zu zwei Stunden, wenn Stau war. Das war alles andere als professionell. Trotzdem war es eine lehrreiche Zeit in einer Liga mit Top besetzten Trainern und Spielern.
SPORT1: Ist Ihre Familie in den vergangenen Jahren immer mitgereist?
Zinnbauer: Zum Glück habe ich eine Familie, die mir den Rücken stärkt und mir diese Entscheidungen ermöglicht. In der Schweiz und in Südafrika waren sie dabei, in Casablanca haben wir es versucht, aber die Organisation der Schule meines Sohnes gestaltete sich schwierig. Danach sind sie nach Deutschland zurückgekehrt, mittlerweile leben sie in Österreich. Hier in Algerien bin ich aktuell allein, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie mir folgen.
SPORT1: Wie sehen Sie sich heute als Trainer?
Zinnbauer: Ich habe über die Jahre viele wertvolle Erfahrungen gesammelt und bin heute natürlich deutlich erfahrener als früher. Auch beim HSV war es nach mir für viele Trainer schwierig. (lacht) Es kann also nicht immer nur am Trainer liegen. Durch meine Arbeit mit verschiedenen Kulturen und in großen Vereinen bin ich gewachsen. Afrikanische Fußballvereine haben sich durch die Zeit und die WM weiterentwickelt, neue Strukturen geschaffen und moderne Stadien gebaut. In Kapstadt zum Beispiel leben viele Deutsche und darunter auch viele Hamburger.
SPORT1: Wie ist es dort?
Zinnbauer: Kapstadt ist eine fantastische Stadt, und die Spieler im Land sind technisch sehr gut veranlagt. Das Potenzial ist riesig. Taktisch ist man natürlich noch nicht auf deutschem Niveau. Aber genau das macht es für mich spannend: Projekte weiterzuentwickeln. Bei den Orlando Pirates war ich zwei Jahre, das ist ein riesiger Klub. Viele kennen ihn oder die Kaizer Chiefs nicht, aber ein Derby mit über 100.000 Zuschauern ist einfach unglaublich - 90 Minuten Gänsehaut. Und Casablanca - dort gibt es die besten Fans der Welt. Das kann man nicht beschreiben, das muss man erleben. Diese Emotionen gibt es in Europa nicht.
SPORT1: Was meinen Sie damit?
Zinnbauer: In Nordafrika leben die Menschen ihren Verein auf eine Weise, die man in Europa kaum kennt. Die Klub-DNA ist in ihrem Blut. Diese Fankultur ist einzigartig. Solche Emotionen und Erfahrungen kann man sich nicht kaufen.
SPORT1: Wie kamen Sie zu Raja Casablanca?
Zinnbauer: (lacht) Wir haben mit Orlando Pirates gegen Raja gespielt. Offenbar ist mein Name dort hängen geblieben. Wir waren damals spielerisch besser als sie, und irgendwann kam eine Anfrage. Raja Casablanca ist neben Wydad der größte Club Marokkos. Deutsche Journalisten wollten sogar mal eine Doku über das Derby machen, aber das Ausweichstadion war zu klein, sodass das Spiel unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden musste.
SPORT1: Warum?
Zinnbauer: Weil unser Stadion für die Afrikameisterschaft renoviert wurde und das Derby nicht dort stattfinden durfte. Aber es ist ein Highlight, ähnlich wie Pirates gegen die Kaizer Chiefs. Da könnte man 500.000 Karten in einer Stunde verkaufen.
SPORT1: Was treibt Sie als Trainer an?
Zinnbauer: Die Begeisterung der Fans und die Anerkennung als deutscher Trainer. Wir sind international für unsere Ausbildung und Disziplin geschätzt. Zudem suchen Vereine gezielt nach Veränderungen und akzeptieren auch mal Rückschläge.
Der Rekordvertrag von Zinnbauer bei Kabylie
SPORT1: Lassen Sie uns über Geld sprechen. Sie sollen JS Kabylie nächste Saison zur ersten Meisterschaft seit 2008 führen. Laut algerischen Medien verdienen Sie monatlich 60.000 Euro - angeblich Rekord für einen Trainer dort.
Zinnbauer: Über Vertragsdetails spreche ich nicht. Ich verdiene sicher gutes Geld und muss mich für meinen Vertrag nicht schämen. Aber wenn es mir nur ums Geld ginge, hätte ich woanders unterschreiben müssen. In den vergangenen Jahren habe ich gute Arbeit geleistet: Die Orlando Pirates haben wir von Platz 13 auf Platz 3 geführt und dazu einen Titel gewonnen. Die Klubs in Afrika sind riesig, aber in Europa kennt man sie kaum. Sportlich ist das sehr reizvoll – finanziell natürlich auch. Und man hört natürlich genau hin, wenn ein Verein einen unbedingt will.
SPORT1: Wie ist das Leben als Trainer in Algerien, besonders jetzt im Ramadan?
Zinnbauer: Ich kenne das schon aus Casablanca. Am ersten Tag feierten die Spieler mit ihren Familien. Ab 18:30 Uhr wird gegessen, danach gibt es Analysen und Gym-Einheiten. Um 23 Uhr wird trainiert, die Spiele beginnen um 22 Uhr.
SPORT1: Wie groß ist Ihre Sehnsucht nach der Bundesliga?
Zinnbauer: Ich bin offen für alles. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
SPORT1: Schafft der HSV den Aufstieg?
Zinnbauer: Ja. Der HSV hat es mit erfahrenen Trainern nicht geschafft - warum nicht jetzt mit Polzin (der aktuelle HSV-Coach Merlin Polzin, d. Red.)?
SPORT1: Würden Sie für den HSV noch einmal alles stehen und liegen lassen?
Zinnbauer: Ja. Ich habe da noch etwas offen.