Christian Lell war ein „Kind“ des FC Bayern. Er wuchs in der Nähe der Trainingsstätte auf, durchlief die Jugendabteilung und gewann mit den Profis 2008 und 2010 das Double mit Meisterschaft und DFB-Pokal. Später wechselte er zu Hertha BSC und nach Spanien zu UD Levante, wo er gegen Lionel Messi und Cristiano Ronaldo spielte.
Was ist aus Christian Lell geworden?
Wenn man heute mit dem Ex-Profi spricht, trifft man auf einen selbstreflektierenden Menschen, der mit Stolz auf seine Fußballkarriere zurückblickt, aber auch um die Fehler der Vergangenheit weiß. Schlagzeilen rund um sein Privatleben lenkten früher vom Fußball ab. Schicksalsschläge kamen hinzu. Er musste den Tod seiner Schwester verarbeiten, für die er die „Christian Lell Stiftung“ gegründet hatte.
Nach seiner Fußballkarriere machte er sich in der Immobilienbranche selbstständig. Nach erfolgreichen Jahren war auch sein Unternehmen von der kriselnden Konjunktur, hohen Zinsen sowie gestiegenen Baukosten betroffen.
Wegen offener Forderungen wurde ein Haftbefehl erlassen. Lell betont aber, dass es sich „um einen zivilrechtlichen Erzwingungshaftbefehl, nicht um ein strafrechtliches Verfahren“ gehandelt habe. Um eine Insolvenz abzuwenden, verkaufte er Anfang des Jahres sein Unternehmen. Gegenüber Lell seien dadurch keine Forderungen mehr offen, wie der Ex-Profi erklärt. „Jeder Mensch hat eine Vergangenheit“, sagt er. Doch er möchte diesen Episoden „nicht mehr Raum geben, als ihnen in meinem heutigen Leben zusteht.“
Inzwischen lebt Lell in Asien. Eine bewusste Entscheidung für einen neuen Lebensabschnitt infolge eines „spirituellen Erwachens und einer immer größer werdenden Neugier auf die buddhistische Lebensweise“. Lell startet dort viele Projekte, initiiert beispielsweise mit seiner Stiftung ein Pilotcamp für emotional vernachlässigte Kinder.
Im exklusiven SPORT1-Interview blickt er dennoch auf sein bewegtes Leben zurück, spricht außerdem über sein Verhältnis zu Bastian Schweinsteiger, seine Erinnerungen an Uli Hoeneß sowie Thomas Müller und Grätschen gegen Ronaldo.
SPORT1: Herr Lell, wie sehr fühlen Sie sich heute noch mit Ihrem früheren Verein FC Bayern München verbunden?
Lell: Die Verbundenheit ist nach wie vor da. Ich bin ein Münchner Kindl, mein Elternhaus steht an der Säbener Straße, und der FC Bayern war über viele Jahre ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich verfolge auch heute noch Spiele im Fernsehen. Ehrlich gesagt würde ich mir gerne häufiger die Zeit dafür nehmen, aber durch meine neuen Tätigkeiten, etwa Vorträge auf Kongressen, den Projekten meiner Stiftung und Podiumsdiskussionen, ist mein Alltag mittlerweile sehr erfüllt. Trotzdem bleibt der Verein in meinem Herzen immer präsent.
SPORT1: Sie haben gerade das Ende Ihrer Profikarriere vor elf Jahren angesprochen. Wie war Ihr Übergang vom Profifußball in das „normale Leben“?
Lell: Es mag paradox klingen, aber der Übergang begann für mich erst vor drei Jahren. Warum? Nach meiner Karriere als Fußballspieler gab es sehr viele Schicksalsschläge und gravierende Veränderungen um mich herum, wodurch ich meine neue Lebenssituation gar nicht richtig wahrgenommen habe. Ich musste verstehen, was es bedeutet, einen Menschen zu verlieren.
SPORT1: Ihre Schwester starb im Alter von nur 27 Jahren an der Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose…
Lell: Ich musste auch verstehen, was es auch bedeutet, meine Tochter zu großen Teilen zu verlieren. Denn die Trennung von meiner damaligen Lebensgefährtin fand ungefähr zum Ende meiner Profikarriere statt. Direkt danach sprang ich ins Unternehmertum. Den Speed, den Erfolgsdruck und die Erwartungshaltung - was ich aus dem Profifußball kannte – nahm ich direkt in die Immobilienbranche mit. Erst mit dem Verkauf meiner Holding hatte ich endlich einmal Zeit für mich.
Eingewechselt für Ballack: „Ein Traum ging in Erfüllung“
SPORT1: Bevor wir über Ihre Zeit nach dem Fußball sprechen, lassen Sie uns noch ein bisschen über Ihre aktive Laufbahn unterhalten. Sie wurden beim FC Bayern ausgebildet und gaben im Oktober 2003 Ihr Bundesliga-Debüt gegen Hertha BSC. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre ersten Spiele beim FC Bayern unter Trainer Ottmar Hitzfeld?
Lell: Ich weiß noch genau, wie ich für Michael Ballack eingewechselt wurde. Ein Traum ging in Erfüllung. Früher saß ich als Kind im alten Olympiastadion und habe die Spiele verfolgt, teilweise war ich auch Balljunge. Plötzlich war ich selber Spieler des FC Bayern. Ich verspürte viel Ehrfurcht und Respekt, aber auch viel Freude, diesen Durchbruch geschafft zu haben.
SPORT1: Nach Ihrer Ausleihe zum 1. FC Köln kehrten Sie zum FC Bayern zurück. Unter Felix Magath kamen Sie nur selten zum Einsatz. Dann wurde Magath entlassen, Hitzfeld übernahm wieder das Traineramt und Sie entwickelten sich zum Stammspieler…
Lell: Das hing natürlich auch damit zusammen, dass Willy Sagnol sich in der Saisonvorbereitung 2007 schwer verletzt hatte. In den Jahren zuvor war er unbestrittener Stammspieler. Da kam ich nicht vorbei, daher auch die Ausleihe nach Köln. Seine Verletzung war meine Chance. Ich weiß noch, wie Uli Hoeneß in der Saisonvorbereitung zu mir kam, mir auf die Schulter klopfte und sagte: „So Christian, jetzt ist deine Zeit.“ Ich wusste, dass es Überlegungen gab, einen neuen Spieler zu verpflichten. Aber Ottmar hatte sich für mich ausgesprochen. Das wurde mir in dem Moment bewusst, als Uli zu mir kam. Ganz nach dem Motto: Jetzt gib Gas!
„Uli Hoeneß war der FC Bayern“
SPORT1: Wie haben Sie Uli Hoeneß insgesamt wahrgenommen?
Lell: Uli Hoeneß war der FC Bayern. Egal, wann du an der Säbener Straße angekommen bist: Uli war da! Auch als ich bei der 2. Mannschaft des FC Bayern unter Hermann Gerland spielte, war Uli immer präsent. Wenn Herrmann Gerland mit mir sprach, hieß es immer: „Ich habe mit Uli gesprochen, ich habe mit Uli gesprochen.“ Er war omnipräsent. Ich habe ihn als sehr weitsichtig, souverän und erhaben wahrgenommen. Er hatte immer alles unter Kontrolle. Und man konnte sich immer auf ihn verlassen.
SPORT1: Sie haben beim FC Bayern mit vielen großartigen Spielern wie Franck Ribéry, Luca Toni und Miroslav Klose zusammengespielt. Welche Spieler haben Sie am meisten beeindruckt?
Lell: Oh, das ist eine schwierige Frage (überlegt lange). Menschlich hatte ich den engsten Draht zu Mark van Bommel und Miroslav Klose. Das waren zwei Persönlichkeiten, mit denen ich mich sehr gut verstanden habe. Wir hatten ähnliche Ansichten. Sie waren sehr familiär, bodenständig und nachhaltig. Sportlich würde ich Franck Ribéry nennen. Er kam nach München, hatte so viel Selbstverständlichkeit und Selbstsicherheit und hat all seine Fähigkeiten auf den Platz gebracht.
SPORT1: Wie war Ihr Verhältnis zu Bastian Schweinsteiger? Es gab Gerüchte, Sie hätten ein schwieriges Verhältnis, weil Sie mit seiner Ex-Freundin Daniela eine Beziehung eingingen und später auch eine gemeinsame Tochter bekamen…
Schweinsteiger? „Die Vorgeschichte ist deutlich komplexer...“
Lell: Es gab keine großen Reibereien zwischen uns. Natürlich war das für ihn vermutlich nicht ganz einfach. Aber Daniela und ich hatten keine oberflächliche Geschichte – wir haben eine Familie gegründet. Und sagen wir so: Die gesamte Vorgeschichte ist deutlich komplexer, als es in der Öffentlichkeit den Anschein hatte. Bastian hatte bereits zuvor einen Flirt mit meiner Ex. Daher konnte er gegen Daniela und mich nicht viel sagen. Das sind übrigens Themen, die ich in meinem Buch (erscheint voraussichtlich im Dezember) auch noch einmal thematisiere, die ich mit dem wunderbaren deutschen Philosophen Albert Kitzler geschrieben habe. Es wird darin um innere Heilung, Transformation und Bewusstsein gehen.
SPORT1: Zurück zum Sport: Nach Hitzfeld kam Jürgen Klinsmann im Sommer 2008 zum FC Bayern. Sie waren weiterhin meist als Stammspieler gesetzt. Warum hat es damals zwischen Klinsmann und dem FC Bayern nicht gepasst?
Lell: Ich fand, dass Jürgen Klinsmann schon immer seiner Zeit voraus war. Ich fand es geil, dass er sich getraut hat, unter Hoeneß und Rummenigge beim FC Bayern neue Wege einzuleiten. Viele Dinge, die er damals eingebaut hat, sind heute im Profifußball Normalität. Sind wir ehrlich: Wenn du „out of the box“ denkst, eckst du in der Regel im Mainstream an! Ich fand es cool, dass er sein Ding trotzdem durchgezogen hat. Wenn ich heute an Klinsmann zurückdenke, denke ich an Neuerungen und Inspiration.
SPORT1: Als Louis van Gaal den FC Bayern im Sommer 2009 übernahm, war das für einige junge Spieler wie Thomas Müller und Holger Badstuber ein Karriereschub. Sie allerdings kamen unter ihm überhaupt nicht mehr zum Einsatz und haben den Verein später verlassen. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Lell: Ich habe schnell gemerkt, dass es für mich schwer unter ihm wird. Ich erinnere mich noch an meine erste Begegnung mit ihm: Er stellte sich der Mannschaft vor und gab jedem Spieler die Hand. Als er meine Hand schüttelte, kam er mir mit seinem Kopf sehr nahe. Das war fast schon erschreckend - und zwar nicht auf eine positive Art. Ich hatte sofort das Gefühl, dass er voreingenommen ist. Und das hat sich auch bestätigt.
Müller? „Stets am richtigen Ort“
SPORT1: Welche Erinnerungen haben Sie an Thomas Müller. Haben Sie geahnt, dass er so eine große Karriere machen würde?
Lell: Nein. Allerdings erinnere ich mich noch an ein Testspiel in der Vorbereitung. Das war ein Spiel gegen irgendeine Dorfmannschaft, das man 18:0 gewinnt (lacht). Ich knallte eine Flanke in den Strafraum - allerdings nicht fein geschippt, wofür ich ja sonst bekannt war (ironischer Lacher), sondern sehr doll. Normalerweise würde niemand seinen Kopf im Freundschaftsspiel hinhalten. Aber Thomas stand mit seiner Birne goldrichtig, hat seine Rübe hingehalten und das Ding reingemacht. Mir fiel immer wieder auf, dass er mit seiner schlaksigen Art und Weise stets am richtigen Ort stand. Das hat er später mehrere hunderte Male bewiesen.
SPORT1: Sie wechselten 2010 vom FC Bayern zu Hertha BSC. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
Lell: Die Zeit in Berlin war sehr gemischt. Wir sind mit Markus Babbel in die Bundesliga aufgestiegen, haben auch in der 1. Liga eine gute Hinrunde gespielt, wir waren eine eingespielte Truppe. Dann gab es im Winter das Zerwürfnis zwischen Babbel und Michael Preetz. Plötzlich wurde der Trainer ausgetauscht. Dann sind wir in der Relegation im Skandal-Spiel gegen Fortuna Düsseldorf abgestiegen. Privat war das keine einfache Zeit.
So erlebte Lell die Duelle mit Ronaldo und Messi
SPORT1: Wie blicken Sie auf die Zeit bei UD Levante zurück, wo sie nach ihrer Zeit in Berlin hin sind?
Lell: Das war mega-gut. Ich erinnere mich an Spiele gegen Real Madrid mit Cristiano Ronaldo. Das sind schöne Momente gewesen.
SPORT1: Wie gut haben Sie gegen Ronaldo verteidigt?
Lell: In guter alter Hermann-Gerland-Manier habe ich ihn erst einmal an der Außenbahn weggegrätscht, damit er weiß, wo der Frosch die Locken hat (Lacher).
SPORT1: Sie hatten ihn also im Griff?
Lell: Naja, so gut man einen solchen Mann im Griff haben kann. Am Ende haben wir verloren. Sportlich war das ausbaufähig. Aber ich würde nicht sagen, dass er mich schwindelig gespielt hat. Schwindlig war mir eher noch von Messi aus dem Champions League Spiel mit FCB in Barcelona (lacht).
SPORT1: Themawechsel: Ihrem Instagram-Profil lässt sich entnehmen, dass Sie zur Spiritualität gefunden haben. Wie kam es dazu?
Lell: Ich habe in meinem Leben einige Talsohlen durchschritten. Irgendwann war ich müde davon, mein Glück im Außen zu suchen. Jahrelang ging es bei mir immer um den nächsten Erfolg, die nächste Immobilie, das nächste Auto, die besten Tische in Clubs, Yachten und all das, was oberflächlich mit Status verbunden wird. Aber nichts davon brachte mir den inneren Frieden, nach dem ich mich tief im Innersten sehnte. Ein weiterer Wendepunkt war für mich die Biografie von Udo Müller, über die ich auf Osho (ein indischer Philosoph, Anm. d. Red..) und OM (eine Silbe, die bei Hindus, Jainas und Buddhisten als heilig gilt, Anm. d. Red.) aufmerksam wurde. Ich begann ein vegetarisches Leben, integrierte regelmäßig Vipassana-Meditationen in meinen Alltag, und mit der Zeit veränderte sich mein gesamtes Bewusstsein. Es war, als hätte sich ein neues Kapitel geöffnet - eines, das nicht im Außen beginnt, sondern in der Stille in mir.
SPORT1: Sie haben eben die Talsohlen Ihres Lebens angesprochen…
Lell: Ich litt unter sehr schweren Depressionen. Wenn ich auf mein Leben zurückblicke: Ich war als Fußballer natürlich sehr privilegiert. Dann stieg ich in die Immobilienbranche ein. Und das zu einer Zeit, als die Immobilienpreise von Jahr zu Jahr gestiegen sind. Aber erst durch meine Depression fand ich zurück ins Leben. Heute kann ich aus der Erfahrung sagen: Ruhm, Geld, materielle Sachen, Image - all das macht nicht nachhaltig und wahrhaftig glücklich. Ich glaube, aus dieser Erfahrung heraus kann ich anderen Menschen helfen, die eine schwierige Zeit durchmachen.
SPORT1: Welchen Tipp würden Sie jungen Fußballprofis geben, die plötzlich mit viel Geld und Ruhm konfrontiert werden?
Lell: Ich glaube, dass die Fußballprofis von heute geerdeter sind als wir damals. Sie haben einen anderen Fokus und ein anderes Bewusstsein. Wenn ich an meine Zeit zurückdenke: Der Willy Sagnol hat die eine oder andere Zigarette im Whirlpool geraucht oder kam mit Hüftgold aus der Sommerpause. So etwas gibt es heute vermutlich nicht mehr.
Lell: „Das war ein Pulverfass“
SPORT1: Was würden Sie anders machen, wenn Sie noch einmal Jungprofi wären?
Lell: Ich glaube, es ist immer schwierig, aus der heutigen Perspektive zu sagen, was man „anders“ machen würde - denn letztlich hat mich jeder Schritt, auch die schmerzhaften, zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Aber rückblickend würde ich wohl mehr Geduld mitbringen und mich nicht so stark von äußeren Dingen leiten lassen. Damals war ich sehr jung, plötzlich erfolgreich, mit Möglichkeiten, von denen ich vorher nicht mal zu träumen wagte - und ich habe mich oft von genau diesen Möglichkeiten treiben lassen. Heute weiß ich: Der Fokus auf das Wesentliche, auf das, was wirklich zählt, ist viel wertvoller als jeder kurzfristige Reiz.
SPORT1: Welche Nebenschauplätze meinen Sie?
Lell: Partys, Prestige, das schnelle Leben nach Siegen in der Bundesliga, in der ich Millionen verdiente - all das gehörte dazu. Auch Beziehungen, in denen ich weniger bei mir selbst als bei der Bestätigung im Außen war. Doch ich sehe das heute in einem größeren Zusammenhang: Ich bin mit einem tief verletzten, emotional zerrissenen Inneren in die glitzernde Welt des Profifußballs gekommen - voller ungeklärter Themen aus meiner Kindheit, in der es Gewalt, Alkohol und Missbrauch gab. Plötzlich stand ich im Rampenlicht, und keiner hatte mir beigebracht, wie man damit umgeht. Das war ein Pulverfass, welches früher oder später drohte zu explodieren.
SPORT1: Aber…
Lell: Aber ich sage das nicht, um mich in eine Opferrolle zu begeben - im Gegenteil. Ich übernehme volle Verantwortung für meinen Weg. Aber ich verstehe heute, warum manches so kam, wie es kam. Einige dieser Erfahrungen und inneren Prozesse sollen auch Teil eines geplanten Filmprojekts werden, das sich derzeit in Vorbereitung befindet. Es ist mir ein Anliegen, auf diese Weise anderen Menschen Mut zu machen - besonders jenen, die im Schatten stehen und nicht wissen, dass sie trotzdem ein Licht in sich tragen.