Yann Sommer hat mit Inter Mailand das Finale der Champions League erreicht - und mit starken Leistungen großen Anteil daran. Als Belohnung dafür wartet eine Rückkehr in die Allianz Arena nach München. Dort hatte er 2023 in seiner Zeit beim FC Bayern Manuel Neuer vertreten, sah sich aber häufig mit Kritik konfrontiert.
Sommer „hat in München gelitten“
Einer, der die Kritik schon damals für völlig überzogen hielt, ist der frühere Schweizer Nationaltorwart und Ex-Gladbacher Jörg Stiel. Im SPORT1-Interview spricht Stiel über Sommers jüngste Leistungen, dessen schwierige Zeit bei den Bayern und mögliche Rachegefühle.
SPORT1: Herr Stiel, ganz Europa ist begeistert von den beiden Halbfinalspielen in der Champions League zwischen Inter Mailand und dem FC Barcelona. Wie haben Sie vor allem das Rückspiel erlebt?
Jörg Stiel: Das war eine Partie, die die ganze Schönheit des Fußballs gezeigt hat. Da standen zwei offensiv spielende Mannschaften auf dem Platz, die verschiedene Phasen durchlebt haben – positive und negative. Beide sind ans Limit gegangen. Das war Werbung für unseren Sport. Einfach fantastisch. Deswegen schauen wir Fußball und deswegen arbeiten wir Profis in diesem Geschäft.
Stiel: „Zeit in München war anstrengend für ihn“
SPORT1: Yann Sommer hat ein überragendes Spiel gemacht. Wenn man Schweizer ist und noch dazu Torhüter war wie Sie, ist man nach dem Spiel mit einem Lächeln ins Bett gegangen, oder?
Stiel: Natürlich! (lacht) Ich kenne Yann schon lange. Was er gestern gezeigt hat, war absolute Weltklasse. Ich glaube, dass die Italiener es wie ich sehen: Sie können sich bei ihm bedanken. Für einen Torwarttrainer, der ich ja mittlerweile bin, sind zwei Spiele mit insgesamt sechs Gegentoren natürlich kein Wunschergebnis… (lacht), aber darum geht es nicht. Yann spielt ja nicht nur jetzt gut, sondern tut das bereits seit seinem Wechsel nach Mailand.
SPORT1: Ein Schritt, der ihm offenbar richtig gutgetan hat …
Stiel: Ja, er spielt seit fast zwei Jahren konstant auf einem sehr hohen Niveau – so wie er es in Gladbach getan hat. Seine Zeit in München war dagegen etwas anstrengend für ihn, aber jetzt fühlt er sich wohl und man sieht, was man mit seiner Erfahrung und seiner Explosivität erreichen kann.
SPORT1: Sommer erlebt jetzt eine Art zweiten Frühling. Ist das so, weil er jetzt – wie in Gladbach – wieder ein Umfeld hat, in dem er sich wohlfühlt?
Stiel: Ich glaube schon, dass er eine gewisse Sensibilität besitzt – so wie wir alle. Er reagiert natürlich auf die Dinge, die um ihn herum passieren. Sowohl in Gladbach, als auch in Mailand hat man ihn mit offenen Armen empfangen. Obendrein ist Mailand natürlich ein schönes Fleckchen Erde. Der Lebensstil passt zu ihm. Das trägt alles dazu bei. Und durch den strukturierten Fußball, den man in Italien pflegt, stimmt für ihn das Gesamtpaket. Das passt einfach.
FC Bayern? „Die Kritik wurde auf Yann abgeladen“
SPORT1: In München hat er sich vermeintlich nicht ganz so wohlgefühlt. In Sommers Zeit bei den Bayern im Jahr 2023 war der ganze Verein in Aufruhr. Wie sehen Sie das rückblickend? Hat ihn das Engagement bei Bayern vielleicht doch irgendwie positiv geprägt?
Stiel: In diesem halben Jahr beim FC Bayern hat man einfach zu viel an ihm festgemacht. Die Kritik, die eigentlich den ganzen Verein betreffen hätte müssen, wurde auf Yann abgeladen. Das war nicht richtig und das habe ich auch damals schon in einem Interview gesagt. Er war nicht der entscheidende Punkt, dass es damals sportlich nicht perfekt lief. Da haben einige Leute von ihren eigenen Fehlern abgelenkt.
SPORT1: Wie meinen Sie das?
Stiel: Damals war klar, dass Manuel Neuer irgendwann zurückgekommen würde. Da war es naheliegend, dass man die Probleme bei Yann abgeladen hat. Er hatte damals sicherlich nicht weniger Qualität als heute, aber der Druck in München hat ihn schon geprägt. Solch eine harte Zeit lässt einen nicht kalt. Der FC Bayern ist einer der größten Vereine der Welt. Dadurch ist er, glaube ich, nochmals gereift. So lernt man, dass man sich immer nur auf sich selbst und die eigene Leistung fokussieren sollte. Er hat in München gelitten, aber das kommt ihm jetzt zugute.
SPORT1: In dieser Zeit stand Sommer stark in der Kritik. Didi Hamann, Roman Weidenfeller, Jean-Marie Pfaff, Sepp Maier… Alle hatten eine Meinung – und zwar keine gute. Es hieß sogar, er sei zu klein…
Stiel: Das hat man ja jetzt gesehen, dass Yann zu klein ist… (lacht)
„Respektlos, wie mit Menschen umgegangen wird“
SPORT1: Spüren Sie ein wenig Genugtuung, dass Sie damals mit deutlichen Worten dagegenhielten und jetzt Recht behalten haben?
Stiel: Mir geht es nicht darum, Recht zu haben. Ich sage einfach meine Meinung. Klar habe ich eine gewisse Sympathie für Yann, aber mir ging es in erster Linie um Respekt. Ich finde es grundsätzlich respektlos, wie mit Menschen heutzutage umgegangen wird. Ich glaube allerdings nicht, dass diese Experten ihre Lehren daraus ziehen. So laufen diese Leute eben durch die Weltgeschichte. Ich selbst mache das anders. Jemandem, der viel leistet, sollte man immer Respekt zollen.
SPORT1: Glauben Sie, dass Yann Sommer so tickt? Verspürt er Rachegefühle? Es muss doch eine große Genugtuung für ihn sein, Ende Mai ausgerechnet in München das Champions-League-Finale bestreiten zu dürfen.
Stiel: Ich denke, dass er sehr fokussiert ist und erstmal das Rückspiel verarbeiten muss. Ich glaube nicht, dass er ein Mensch ist, der Rachegefühle hat. Er verspürt vielleicht ein bisschen Genugtuung, aber er weiß doch auch, dass es in diesem Geschäft immer Kritik geben kann. In München war es für meinen Geschmack einfach zu extrem. Es dürfte ihm egal sein, ob das Finale in Manchester, München oder sonst wo stattfindet. Er wird sich einfach nur freuen, dass er die Chance hat, den Titel zu holen. Damit hat er vielleicht selbst nicht mehr gerechnet.
SPORT1: Immerhin ist er ja schon 36 Jahren alt.
Stiel: Richtig, wenn er die Champions League gewinnen sollte, hat er wahnsinnig viel erreicht – bis jetzt. Man weiß ja nicht, was noch kommt. „Memo“ Ochoa wird bald 40 und spielt immer noch. Mit 36 ist Yann also nicht alt. Das war zu meiner Zeit vielleicht anders, aber die Jungs von heute sind topfit. Außerdem verfügt man in diesem Alter über viel Erfahrung.
Stiel: Darum können Torhüter länger spielen
SPORT1: Warum können Torhüter so viel länger auf dem Platz stehen als Feldspieler?
Stiel: Es ist ein ganz anderer Job. Wenn man sich eine gewisse Explosivität bewahrt, kann man viel mit Erfahrung und dem richtigen Stellungsspiel regeln. Die Feldspieler können angesichts der Dynamik des modernen Fußballs nicht bis ins hohe Fußballeralter mithalten. Als Torhüter muss man nicht unbedingt immer am körperlichen Limit sein. Aber die Explosivität muss eben stimmen.
SPORT1: Aber man knallt tausendfach auf die Hüfte. Das kostet den Körper doch auch viel Substanz, oder?
Stiel: Ja, aber man lernt ja, wie man die Belastung steuert. Man muss nicht nach jedem Ball hechten. Außerdem haben sich die Trainingsbedingungen verändert. Es ist nicht mehr so wie früher, als man auf einem holprigen Rasen ständig auf den Boden geknallt ist. Ich selbst habe zum Beispiel keinerlei Hüftprobleme. Ich habe nicht ohne Grund immer relativ dicke Hüftpolster getragen, sonst könnte ich meinen heutigen Job als Torwarttrainer gar nicht mehr machen. Arthrose ist mir zum Glück erspart geblieben.
Schweiz ohne Sommer? „Man wird wehmütig“
SPORT1: Wie sehr fehlt Yann Sommer in der Schweizer Nationalmannschaft?
Stiel: Gute Frage … das war hier natürlich ein großes Thema. Yann hätte locker weiterspielen können, aber man muss schon darauf achten, wie sich die Mannschaft weiterentwickeln kann und soll – gerade mit Blick auf Gregor Kobel. Wenn man Yann in seiner aktuellen Verfassung sieht, wird man schon ein wenig wehmütig und wünscht ihn sich vielleicht zurück. Aber man muss in der „Nati“ einen Plan haben und Gregor Kobel hat in Dortmund ja auch gezeigt, zu was er im Stande ist. Außerdem denke ich, dass es Yann ganz guttut, Pausen zu haben und nicht auch noch in der Nationalmannschaft antreten zu müssen.
SPORT1: Was wünschen Sie ihm für das Finale und die Zukunft?
Stiel: Natürlich wünsche ich ihm den Titel! So viel Schweizer bin ich dann schon. (lacht) Das waren jetzt zwei Top-Jahre, die er in Mailand hatte. Das mit dem Triumph in der Champions League zu krönen, wäre einfach großartig für ihn.