Fußball>

“Da droht das nächste Unheil!” Netzer über Probleme für die Bundesliga

„Da droht das nächste Unheil“

Ob als Spieler oder als TV-Experte: Günter Netzer zählt zu den größten Legenden des deutschen Fußballs. Im zweiten Teil des SPORT1-Interviews spricht er unter anderem über das Sommermärchen 2006 und seine Beziehung zu Uli Hoeneß.
Günter Netzer erzählt im exklusiven SPORT1-Interview einige Anekdote aus seiner bewegten Karriere. Legendär: Seine Selbst-Einwechslung im Finale des DFB-Pokals für Borussia Mönchengladbach.
Ob als Spieler oder als TV-Experte: Günter Netzer zählt zu den größten Legenden des deutschen Fußballs. Im zweiten Teil des SPORT1-Interviews spricht er unter anderem über das Sommermärchen 2006 und seine Beziehung zu Uli Hoeneß.

Wenn Günter Netzer spricht, hört der Fußball zu. Der 81-Jährige steht für messerscharfe Analysen und Klarheit.

Im zweiten Teil des SPORT1-Interviews erinnert sich die Gladbacher Ikone an seine Zeit im TV-Studio, blickt auf die Entwicklung seines Herzensvereins und spricht über seine vielschichtige Beziehung zu Uli Hoeneß sowie über das Sommermärchen 2006.

SPORT1: Herr Netzer, nach landläufiger Meinung verliert die Bundesliga immer mehr den Anschluss an die Premier League. Teilen Sie diese Einschätzung?

Günter Netzer: Nein, das sind die heutigen Zeiten. Das Finanzielle spielt eine viel größere Rolle als damals. Da waren alle gleich arm – im Verhältnis zu den Spielern heute. Diese Welt hat sich verändert, und die Fußballwelt natürlich auch – und zwar dramatisch. Es sind ja nicht nur die Engländer, die Saudis stehen auch in den Startlöchern. Da droht das nächste Unheil. Das hängt mit den Fernsehrechten zusammen, die extrem gestiegen sind. In Deutschland konnte man davon nicht so profitieren. In England kriegen die Spieler jährlich das Sieben- oder Achtfache von dem, was die Deutschen erhalten. Das ist ein riesiger Unterschied. Bei diesen Ablösesummen wird mir schwindelig. Ich könnte kein Manager sein, deshalb bin ich auch rechtzeitig ausgestiegen.

SPORT1: XXL-WM 2026, Saudi-Arabien, Kommerz. Fehlt dem Fußball heute Leidenschaft?

Netzer: Das würde ich so generell nicht sagen, es wäre unfair. Ich war von Anfang an gegen den Videobeweis, weil dem Fußball damit die Seele genommen wurde. Das ist nicht mehr spontan. Früher konnten wir uns noch spontan über ein Tor freuen, heute muss man noch einige Minuten warten, bis ein Treffer anerkannt wird. Da hatte ich meine Bedenken, auch wenn andere sagten, es sei gerechter. Mir gefällt es nach wie vor nicht. Heute sind Technokraten am Werk.

SPORT1: Was hat sich im Fußball am meisten verändert, wenn Sie Ihre Zeit mit heute vergleichen?

Netzer: Ich habe schon zu meiner Zeit als TV-Experte gesagt, dass ich keine generationsübergreifenden Vergleiche gestatte. Das ist nicht statthaft, das hinkt. Wir hatten damals Verhältnisse, die sich keiner vorstellen konnte. In Mönchengladbach hatten wir einen Arzt, der Hals-Nasen-Ohren-Spezialist war. (schmunzelt) Und dieser Mann hat unsere Muskeln behandelt – und war auch noch sauer, wenn wir zu einem richtigen Sportarzt gingen. Das hat sich natürlich um Welten verändert. Gott sei Dank für die heutigen Spieler. Die Belastung ist ungleich größer, und dementsprechend kriegen die Jungs auch eine bessere Behandlung.

Netzer: Matthäus „hat sich enorm entwickelt“

SPORT1: TV-Experten sind heute allgegenwärtig und prägen die Wahrnehmung. Was finden Sie daran gut, was weniger gut?

Netzer: Für mich war es erstaunlich, dass die Leute plötzlich wahrgenommen haben, wie ich rede und was ich sage. Meine Frau (Elvira, d. Red.) hat einmal einen sehr klugen Satz gesagt: „Dann habt ihr nicht gut aufgepasst, er hat immer so geredet. Das entspricht der Wahrheit.“ Ich habe mich getraut, zusammen mit Herrn Delling im Fernsehen das zu sagen und zu interpretieren, was die Zuschauer draußen gesehen haben – auch Unangenehmes. Wir haben nie versucht, ein schlechtes Spiel schönzureden. Dieses amerikanische Prinzip, dass man teure Dinge zwangsläufig positiv darstellen muss, hat für uns nie gegolten. Es war eine absolut authentische Sache, die wir beide da abgeliefert haben. Genau das vermisse ich heute bei den TV-Experten. Da ist mehr Show und weniger Authentizität als dem Fußball guttut.

SPORT1: Wer ist Ihr Lieblings-TV-Experte – und warum?

Netzer: Lothar (Matthäus, d. Red.) hat sich enorm entwickelt, er macht das sehr gut. Ich finde das so schön. Ich habe auch gar nicht gewusst, dass ich sein großes Vorbild war. Vor zwei Jahren hat er mir das gesagt. Das hat meine Beurteilung aber nicht verändert. Lothar war 1990 DER Spieler der Weltmeisterschaft in Italien – großartig, was er da gespielt hat. Er hat in seinem ereignisreichen Leben einiges hinter sich gebracht. Christoph Kramer ist ebenfalls ein interessanter Mann, sehr sachlich und klar in seinen Kommentaren. Schweinsteiger darf man auch nicht vergessen. Das sind schon drei, die man vorzeigen kann.

Hoeneß „ist immer noch eng mit Bayern München verbunden“

SPORT1: Einer, der mit Ihnen 1974 Weltmeister wurde, ist Uli Hoeneß. Wie sehen Sie ihn heute?

Netzer: Hoeneß würde es sicher suspekt finden, wenn er nur Freunde in der Bundesliga hätte. Das strebt er auch gar nicht an. Durch sein Verhalten hat er vieles angeregt – und zwar zum Wohle des Fußballs. Aber das ist auch eine Zeit, die ich selbst nicht mehr begehen wollte. Ich habe irgendwann einen Abschluss gefunden und stand für andere Dinge nicht mehr zur Verfügung. Hoeneß ist ein anderer Charakter. Er hat Bayern München maßgeblich geprägt und hat etwas Unglaubliches geschaffen. Das ist ein Lebenswerk, das seinesgleichen sucht. Trotzdem eckt Hoeneß immer wieder an mit Dingen, die nicht in die Öffentlichkeit gehören, und macht es manch anderem in diesem Job schwer. Er übergeht sie oft in Diskussionen, die er anstößt. Er ist ein anderer Typ als ich, er bringt gewisse Dinge in die Öffentlichkeit, die ich lieber intern besprochen habe. Probleme, die aufgetaucht sind, waren für mich meistens in der Öffentlichkeit tabu. Aber das ist eben Uli Hoeneß pur. Das kann man ihm nicht abgewöhnen.

SPORT1: Klaus Augenthaler sagte unlängst im SPORT1-Interview, Hoeneß könne nicht loslassen. Hat er recht?

Netzer: Ja. Hoeneß ist immer noch im Aufsichtsrat. Er hat eine tolle Familie. Da kann er glücklich sein, alle geben ihm die nötige Rückendeckung und Ruhe. Aber er ist einfach immer noch zu eng mit Bayern München verbunden. Manche sind auch mal schockiert von Hoeneß, weil seine Kommentare oft für Unruhe sorgen. Aber das kann man nicht mehr ändern.

Netzer ist Borussia Mönchengladbach noch immer Nahe

SPORT1: Wie nah ist Ihnen Ihre Borussia heute noch?

Netzer: Sie ist mir wieder sehr nah. Ich war zuletzt bei der 125-Jahr-Feier, das war toll. Ich habe den Leuten dort 15 Jahre lang vorgeworfen, dass jedes Jahr der Nichtabstieg gefeiert wird. Und plötzlich steht da ein wahnsinniges Stadion, das wir uns immer gewünscht hätten. Lange hatte ich keine Kontakte zum Klub, bis mit dem von mir sehr geschätzten Markus Aretz ein Geschäftsführer kam, der sich um die ehemaligen Spieler bemühte. So entstanden ein Museum, ein Hotel – da hat sich einiges getan. Dieses Stadion ist wunderschön.

SPORT1: Gibt es noch Kontakt zu ehemaligen Weggefährten?

Netzer: Vieles verläuft sich, man wohnt ja nicht nebeneinander. Natürlich habe ich aber noch Kontakt zu Berti Vogts, Jupp Heynckes oder auch Wolfgang Kleff. Herbert Wimmer oder Herbert Laumen muss ich natürlich auch nennen. Ulrik le Fevre habe ich ebenfalls lange begleitet. Ich habe jetzt wieder einen guten Kontakt zur Borussia aufgenommen – und das ist schön.

SPORT1: Man kann den Eindruck gewinnen, dass sich die Borussia heute an der eigenen Tradition messen lässt. Ist das eine Bürde oder ein Vorteil?

Netzer: Es ist ein schlechter Ratgeber, der Vergangenheit nachzutrauern. Das tue ich auch nicht. Der Fußball war früher natürlich anders, aber man darf das heute nicht vergleichen. Ich glaube nicht, dass die Borussia eine große Bürde mit sich herumschleppt. Sie werden immer noch als „Fohlen“ bezeichnet. Doch das hat keine Bedeutung für Spieler, die von irgendwoher kommen. Das muss man wegstecken, das gehört auch zur Qualität eines Spielers.

SPORT1: Gerardo Seoane wurde zuletzt bei Borussia Mönchengladbach entlassen. Zu Recht?

Netzer: Ich habe ihm zuletzt bei der 125-Jahr-Feier mein Kompliment ausgesprochen, dass ich ihn für einen sehr guten Trainer halte. Manchmal werden die Verantwortlichen gezwungen, Dinge zu tun, die sie im Innersten gar nicht wollen. Aber das spielt dann keine Rolle mehr. Man muss auch die Stimmung draußen berücksichtigen. Ich bin dagegen, dass die Zuschauer bei Personalien mitbestimmen. Aber die Spieler bekommen die Missstimmung und Unruhe im Klub ja mit. Es tut mir leid für Seoane. Die Verantwortlichen bei Borussia haben ihn sehr geschätzt.

SPORT1: Würden Sie eine zweite Amtszeit von Lucien Favre bei Borussia begrüßen?

Netzer: Man kann nicht wiederholen, was man irgendwann geleistet hat. Man sollte das nicht tun. Vielleicht haben sich die Zeiten heute so verändert, dass das keine Gültigkeit mehr hätte. Ich würde es beiden nicht empfehlen. Lucien Favre ist ein vernünftiger Mann, er würde das vielleicht auch gar nicht machen.

Sommermärchen 2006? „Endlich ist es vorbei“

SPORT1: Was sagen Sie zum Sommermärchen 2006? Da kamen viele unschöne Dinge ans Licht, auch Ihr Name wurde genannt.

Netzer: Endlich ist es vorbei. Die Berichterstattung und die Öffentlichkeit haben es geschafft, das ganze Thema so weit an den Rand zu bringen, dass es kein Sommermärchen mehr war. Darunter hat vor allem Franz Beckenbauer sehr gelitten. Ich habe seine inneren Kämpfe mit diesem Thema hautnah mitbekommen. Es hat ihn wirklich sehr verletzt. Es wurden Dinge geschrieben, die nicht gestimmt haben. Franz war ein Gerechtigkeitsfanatiker. Das war sehr, sehr schade um Franz Beckenbauer. Es war irgendwo verständlich, dass auch mein Name genannt wurde, weil ich Mitglied des Beirats war. Dass man das mit meinen geschäftlichen Dingen in Verbindung brachte, lag für viele auf der Hand. Aber sie wussten nichts. Ich wusste, dass das alles absurd ist. Es gab eine Zeugenaussage, und dann war alles Gott sei Dank beendet.