Wenn Kenan Kocak über seine Karriere spricht, dann tut er das mit spürbarer Leidenschaft – und mit erstaunlicher Offenheit. Der frühere Profi und heutige Trainer scheut sich nicht, auch über schwierige Phasen, eigene Fehler und verpasste Chancen zu reden. Gleichzeitig zeigt er, wie wichtig ihm die engen Kontakte im Fußballgeschäft geworden sind.
Kenan Kocak: "Das hat Sané in Deutschland vielleicht gefehlt"
„Dann zieht euch die Windel an“
Im SPORT1-Interview nimmt Kocak die Leser mit auf seine persönliche Reise – zwischen Erfolgen, Rückschlägen und neuen Zielen.
SPORT1: Herr Kocak, Sie sind aktuell ohne Verein. Wie geht es Ihnen in dieser Phase?
Kenan Kocak: Mir geht es gut. Natürlich möchte man als Trainer arbeiten, aber ich sehe diese Phase auch als Chance, zur Ruhe zu kommen, Zeit mit meiner Familie zu verbringen und mich weiterzubilden. Besonders nach der nicht leichten Geburt meines Sohnes war das sehr wichtig. Auch wenn es ungewohnt ist, nicht den typischen Traineralltag zu haben, nutze ich die Zeit, um über den Tellerrand hinauszuschauen, internationale Trends zu verfolgen und mich auf kommende Aufgaben vorzubereiten.
SPORT1: Viele verbinden Ihren Namen sofort mit Sandhausen. Manche fragen sich aber: „Wer ist eigentlich Kenan Kocak?“ Haben Sie das Gefühl, dass Sie manchmal falsch wahrgenommen werden?
Kocak: Viele kennen mich und meinen Karriereweg nicht. Ich war Profi, hatte aber keine so große Laufbahn wie etwa Bastian Schweinsteiger oder Thomas Müller. Ich habe in der ersten und zweiten Liga in Österreich sowie in der zweiten und dritten Liga in Deutschland gespielt – und musste meine Karriere bereits mit 28 Jahren beenden.
Kenan Kocak: „Ich bin einfach ein anderer Typ“
SPORT1: Wie schwer war es für Sie, nach dem frühen Karriereende noch einmal komplett neu anzufangen?
Kocak: Ich habe dann als Sozialarbeiter mit schwer erziehbaren Kindern und Jugendlichen gearbeitet und gleichzeitig in der Kreisliga auf dem Hartplatz meine ersten Schritte als Trainer gemacht. Von dort habe ich mich hochgearbeitet – bis in die 2. Bundesliga und schließlich sogar bis zur türkischen Nationalmannschaft. Alle meine Lizenzen habe ich in Deutschland gemacht und selbst finanziert. Ich habe in meinem Leben noch nie etwas geschenkt bekommen. Deshalb erstaunt es mich manchmal, wenn meine Karriere falsch eingeschätzt wird, nur weil ich vielleicht nicht der Typ bin, der ständig in die Kamera lächelt. Ich bin einfach ein anderer Typ, lebe Authentizität, und ich habe mich nie verstellt.
SPORT1: War Ihre Rückkehr nach Sandhausen ein Fehler – auch vor dem Hintergrund, dass Ihre Frau damals schwanger war?
Kocak: Da muss man etwas weiter ausholen. Nach der Zeit in der türkischen Nationalmannschaft, in der wir mit Stefan Kuntz sehr erfolgreich gearbeitet haben, sollte ich eigentlich bleiben. Aber aus Loyalität zu Stefan habe ich gesagt: Ich gehe mit ihm.
SPORT1: War es für Sie nie eine Option, trotz der Schwangerschaft weiter als Trainer zu arbeiten?
Kocak: Kurz darauf wurde meine Frau schwanger – und da war für mich klar: Ich begleite sie durch die komplette Schwangerschaft. Wir hatten ja auch schon zwei Jungs zu Hause. In dieser Zeit habe ich alle Angebote abgelehnt.
Zweite Sandhausen-Amtszeit: „Schnell die Quittung bekommen“
SPORT1: Was hat Sie damals am Angebot von Ankaragücü gereizt?
Kocak: Nach der Geburt meines dritten Sohnes kam der Anruf von Ankaragücü, einem großen Traditionsklub, der sportlich und vor allem strukturell in einer schwierigen Phase war.
SPORT1: Wie sind Sie mit diesen schwierigen Bedingungen umgegangen?
Kocak: Es lag extrem viel im Argen, es waren eigentlich keine professionellen Strukturen vorhanden – und dennoch waren wir mit einem Punkteschnitt von 1,9 erfolgreich. Dann hatte meine Familie in der Phase nach der Geburt eine sehr schwierige Phase, die mich dazu zwang, für die Familie da zu sein.
SPORT1: Was hat Sie in dem Moment an Sandhausen überzeugt?
Kocak: Relativ kurz nachdem ich mit Ankaragücü aufgehört hatte, kam der Anruf aus Sandhausen. Aus Emotionen und mit Blick auf die Familie habe ich sofort zugesagt – ohne die Mannschaft, die Liga, die Vereinsstrukturen oder den Staff im Detail zu kennen. Außer Jürgen Machmeier und Volker Piegsa kannte ich kaum jemanden. Im Nachhinein habe ich dafür schnell die Quittung bekommen.
SPORT1: Würden Sie heute mit mehr Distanz eine andere Entscheidung treffen?
Kocak: Ja, diese Entscheidung war zu sehr aus Emotionen getroffen. Ich habe in erster Linie an meine Familie gedacht – aber nicht an meine Trainerkarriere. So erfolgreich und positiv die erste Zeit in Sandhausen für mich war, so extrem negativ war die zweite Phase. Da lag einfach sehr vieles im Argen.
„Ich habe ein Faible für schwierige Situationen“
SPORT1: Sie haben auch bei Hannover 96 gearbeitet. Welche Erfahrungen sind Ihnen besonders geblieben?
Kocak: Ich glaube, ich habe ein Faible für Vereine in schwierigen Situationen und nehme diese Aufgaben gerne an: Denn auch Hannover 96 habe ich in einer sehr schwierigen Situation übernommen – wir standen damals auf einem Abstiegsplatz in der 2. Bundesliga – und am Ende der Saison haben wir die Runde auf Platz fünf oder sechs abgeschlossen. Das war ein sportlich großer Schritt nach vorne. Dabei darf man nicht vergessen: Diese Zeit fiel mitten in die Corona-Phase – ohne Fans im Stadion, ohne die gewohnte Wucht und Unterstützung von den Rängen.
SPORT1: Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach dazu beigetragen, dass Sie den Verein so schnell stabilisieren konnten?
Kocak: Sportlich haben wir in dieser Phase den Verein stabilisiert und Spieler entwickelt, die später den nächsten Schritt gemacht haben: Waldemar Anton ist heute Nationalspieler, Marvin Ducksch wurde für viel Geld verkauft, auch Timo Hübers und Linton Maina sind in die Bundesliga gewechselt. Wir haben also Werte geschaffen und Talente weitergebracht. Und es bleiben auch schöne Erinnerungen: vor allem die beiden Derbysiege gegen Braunschweig. Auch wenn die Fans nicht im Stadion dabei sein konnten, haben wir ihnen vor den Bildschirmen Freude bereitet. Das war für mich ein sehr besonderer Moment. Natürlich haben wir im zweiten Jahr Fehler gemacht - gerade im Kader-Management. Wir haben Spieler wie Ron-Robert Zieler oder Edgar Prib ziehen lassen und hatten durch Corona bedingt Probleme, die richtigen Profile als Zugänge zu bekommen. Das hat uns geschadet. Aber am Ende war ich derselbe Trainer - nur die Rahmenbedingungen haben sich verändert.
SPORT1: Sie waren mit Stefan Kuntz bei der türkischen Nationalmannschaft. Wie war das?
Kocak: Es war sehr prägend. Auf einmal bewegst du dich international auf höchstem Niveau, beobachtest Nationalspieler, bereitest Spiele auf höchstem Level vor und bist Teil eines großen Trainerteams. Wir haben Spielern wie Arda Güler zum Nationalmannschaftsdebüt verholfen – das sind schöne Erfahrungen in einem gesunden Umfeld. Da wird dir klar, wie entscheidend Strukturen im Fußball sind. Wenn Abläufe klar sind, kannst du dich auf deine Kernaufgabe konzentrieren: Spieler entwickeln und die Mannschaft verbessern.
SPORT1: Wie gehen Sie mit Kritik um?
Kocak: Kritik gehört zum Job. Aber Beleidigungen im Netz haben nichts mit Fußball zu tun – wir Trainer und Spieler sind auch Menschen mit Familien. Da sitzt ein 15-Jähriger am Rechner und schreibt Dinge, die nichts mit sachlicher Kritik zu tun haben.
„Momente die ich nie vergessen werde“
SPORT1: Sie haben Kontakte zu Jogi Löw, Hansi Flick, Pep Guardiola, Jupp Heynckes. Wie wichtig ist dieser Austausch?
Kocak: Für mich unglaublich wertvoll. Diese Namen sind große Trainer, aber ich sehe zuerst den Menschen.
SPORT1: Können Sie ein Beispiel geben, wie Sie die Menschen hinter den Trainern kennengelernt haben?
Kocak: Ich habe mit Jogi Fußball gespielt, mit Jupp auf seinem Bauernhof Kaffee getrunken – das sind Momente, die ich nie vergesse. Von solchen Persönlichkeiten kann man extrem viel lernen.
Besuch bei Guardiola! „Das zeigt Größe“
SPORT1: Pep Guardiola ist ja für seine Detailverliebtheit bekannt. Was hat Sie bei ihm besonders beeindruckt?
Kocak: Ich durfte bei ihm hospitieren, und obwohl er unzählige Anfragen bekommt, hat er den Kontakt gehalten. Das zeigt Größe.
SPORT1: Sie erwähnen auch Martin Daxl. Wie hat er Sie konkret unterstützt?
Kocak: Martin begleitet viele namhafte Persönlichkeiten aus Sport, Wirtschaft und Politik. Ich habe ihn in Vorträgen und Weiterbildungen persönlich kennengelernt. Das hat mir enorm weitergeholfen. Er arbeitet u.a. seit 2021 als Potenzial- und Persönlichkeitstrainer bei Eintracht Frankfurt.
SPORT1: Sie beziehen auch Kontakte außerhalb des Fußballs ein?
Kocak: Ja, etwa zu Bernd Peters, dem früheren Hockey-Nationalspieler. Solche Verbindungen erweitern meinen Horizont und helfen mir, den nächsten Schritt zu gehen.
SPORT1: Sie haben gemeinsam mit Julian Nagelsmann den Trainerschein gemacht. Wie haben Sie ihn als Trainer erlebt – und wie beurteilen Sie seine Freistellung beim FC Bayern?
Kocak: Ich kenne Julian seit seiner Ausbildungszeit. Schon damals fiel sein besonderes Trainertalent auf – seine Präsentation, seine Ausstrahlung. Dass er ein Spitzentrainer wird, war früh klar. Seine Erfolge überraschen mich daher nicht. Auch große Trainer haben mal Durststrecken, wie Pep Guardiola, der sechs Spiele in Folge verlor. Solche Phasen gehören dazu. Wichtig ist, einem Trainer den nötigen Raum zu geben. Ich bin überzeugt, dass Julian beim FC Bayern erfolgreich gewesen wäre, hätte man ihm mehr Zeit gelassen.
SPORT1: Sie hatten auch ein Erlebnis mit Ralf Rangnick?
Kocak: Ja, ein prägendes Erlebnis. Ich war noch Verbandsliga-Trainer in Mannheim und habe Rangnick einfach angeschrieben. Er hat geantwortet, wir haben uns getroffen und lange ausgetauscht. Für mich war es unglaublich wertvoll, dass sich ein in der Bundesliga erfolgreicher Trainer Zeit für einen jungen Trainer genommen hat – ein Moment, den ich nie vergessen werde.
„Für Leroy kann das eine Chance sein“
SPORT1: Ein anderes Thema: Leroy Sané ist zu Galatasaray gewechselt. Viele waren überrascht. Wie sehen Sie diesen Schritt?
Kocak: Leroy hatte sicherlich viele Optionen in den Top-Ligen, das weiß ich. Aber Galatasaray ist ein besonderer Klub – mit unglaublicher Leidenschaft, Emotionen und Fans, die einen Spieler wie einen Popstar empfangen. Das Umfeld ist sehr speziell, weil die Erwartungen riesig sind. Der Klub will vor allem international Erfolg haben. Für Leroy kann das mit seiner Erfahrung eine Chance sein und ich weiß, dass er die Wertschätzung, die er dort genießt, sehr schätzt. Das ist vielleicht etwas, was ihm in Deutschland gefehlt hat. Er ist ein Spieler, der Vertrauen und ein Umfeld braucht, das ihn stärkt. Wenn er liefert, wird er dort gefeiert. Kulturell wird er keinen Schock erleben. Leroy ist in Gelsenkirchen aufgewachsen, hat früh viel mit Menschen aus der türkischen Community zu tun gehabt. Er kennt diese Mentalität. Entscheidend wird sein, dass er kontinuierlich Leistung bringt und keine längeren „Leerlaufphasen“ hat, wie zuletzt bei Bayern.
SPORT1: Was reizt Sie eigentlich mehr – Deutschland oder das Ausland?
Kocak: Ich bin offen für alles. Ich freue mich auf meine neue Aufgabe. Gerne auch im Ausland.
Kocak: „Dann zieht euch die Windel an“
SPORT1: Welchen Rat würden Sie jungen Trainern geben?
Kocak: Sucht euch Mentoren, baut ein starkes Netzwerk auf – und lernt, Nebengeräusche auszublenden. Manchmal muss man eine Schutzmauer um sich bauen, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Mannschaft.
SPORT1: Haben Sie noch eine Anekdote für uns?
Kocak: Oh ja. Zu meiner Zeit als Trainer von Waldhof Mannheim habe ich vorm Spiel gegen den Topfavoriten Elversberg in der Kabine auf jedes Trikot eine Windel gelegt und gesagt: „Wenn ihr keine Eier habt und euch vor dem Tabellenführer in die Hosen macht, dann zieht euch die Windel an.“ Wir haben das Spiel gewonnen.