Die Sekunden tickten von der Uhr. Und auch Trainer Frank Schmidt glaubte kurz vor Ablauf der Nachspielzeit beim Stand von 1:1 nicht mehr wirklich an ein Tor für seinen 1. FC Heidenheim.
Der Held, der von Brasilien träumt
„In dem Moment haben wir uns schon auf die Verlängerung vorbereitet. So ehrlich müssen wir sein. Das war nicht zu erwarten“, räumte Schmidt bei SPORT1 ein. Doch dann habe es seine Mannschaft noch ein letztes Mal „astrein durchgespielt“.
Leo Scienza veredelte den klasse Spielzug über Budu Zivzivadze und Paul Wanner mit einem platzierten Schuss ins kurze Eck zum 2:1-Endstand (90.+5) im Relegationsrückspiel bei der SV Elversberg – und hielt Heidenheim damit in der Bundesliga.
Matchwinner Scienza „mit Krampf gesprintet“
Mit letzter Kraft, wie der Matchwinner hinterher zugab. „Ich wusste, dass mein Moment kommen wird. Ich bin mit Krampf trotzdem 15 bis 20 Meter gesprintet“, sagte Scienza am SPORT1-Mikrofon.
Der 26-Jährige krönte damit seine starken Leistungen in beiden Relegationsspielen gegen die Saarländer. Beim 2:2 im Hinspiel wurde der Brasilianer zur Pause beim Stand von 0:2 eingewechselt und lieferte dann die Assists für beide Heidenheimer Tore.
Im Rückspiel am Montagabend bereitete Scienza mit einem Steilpass die frühe Führung durch Mathias Honsak (9.) vor und war auch sonst der auffälligste Heidenheimer auf dem Platz.
„Am Ende ist es wirklich scheißegal“
„Ich bin glücklich darüber, dass ich der Mannschaft helfen konnte“, sagte Scienza, „aber am Ende ist es wirklich scheißegal, wer die Tore macht, wer die Vorlagen gibt.“
Wichtiger sei ihm, „die glücklichen Gesichter von meinen Mitspielern, vom Trainerteam und von den Fans zu sehen. Wir haben es geschafft, ein drittes Jahr in der Bundesliga zu spielen.“
Schmidt: Scienza „musste durch ein Stahlbad gehen“
Für den Offensivspieler war es das erste Jahr im deutschen Oberhaus. „Er hat auch bei mir kein einfaches Jahr gehabt. Er musste ein bisschen durch ein Stahlbad gehen“, gestand auch Schmidt. „Das ist wie in der Ehe, da rumpelt es halt manchmal. Am Ende muss man zusammenstehen.“
Umso mehr freute er sich für seinen Schützling. „Aber man sieht: Kritik muss nicht schlimm sein. Das kann einen weiterbringen. Er hat die richtige Antwort gegeben.“
In der Vorsaison hatte Scienza den SSV Ulm mit zwölf Toren und 15 Assists aus der 3. Liga in die 2. Bundesliga geführt. Doch der Schritt in die erste Liga war ein großer für den 1,75 Meter großen Techniker.
Scienza: „Habe es mir anders gewünscht“
„Ich habe es mir anders gewünscht, dass ich vielleicht ein bisschen mehr spiele. Und dass ich ein bisschen mehr helfen könnte, wenn ich auf dem Platz war“, sagte Scienza.
Zu Saisonbeginn kam er noch häufiger zum Zug, in der Rückrunde ließ Schmidt ihn aber vermehrt auf der Bank. In 25 Ligaeinsätzen steuerte Scienza je drei Tore und Assists bei.
Wie man mit Rückschlägen umgeht, sich gegen Widerstände durchsetzt – das weiß Scienza nur allzu gut. Schließlich verlief seine Karriere bislang alles andere als geradlinig.
In Schweden beim Klub-Boss im Keller gewohnt
Sein Europa-Abenteuer begann 2019 mit dem Wechsel von Brasilien nach Schweden. Die eineinhalb Jahre bei Viertligist Fanna BK beschrieb Scienza im SPORT1-Interview zu Saisonbeginn als eine „sehr, sehr harte Zeit. Ich hatte kein Geld und wohnte beim Boss des Vereins im Keller. Ich habe eineinhalb Jahre auf einer Matratze auf dem Boden geschlafen.“
Fast jeden Tag habe ihn Heimweh geplagt. „Ich habe jeden Tag geweint, jeden Tag gebetet und mit meiner Mutter gesprochen, weil ich alleine war. Aber ich vertraue auf Gott und habe auf die Zähne gebissen. Und das Leben hat mich belohnt für diese Widerstandsfähigkeit.“
Der Wechsel zum FC Schalke 04 im Sommer 2020 habe „sein Leben verändert“, auch wenn er in seinen zwei Jahren dort nur in der zweiten Mannschaft zum Einsatz kam. Beim 1. FC Magdeburg kickte er anschließend zeitweise auch nur in der Reserve in der Verbandsliga. Erst in Ulm nahm seine Karriere so richtig Fahrt auf.
Scienza enthüllt Traum von der Selecao
Am Montag wollte der Relegationsheld allerdings nicht zurückschauen. „Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Wir sind jetzt hier. Wir haben es in der Relegation geschafft. Ich bin sehr glücklich, dass ich helfen konnte. Das ist das Wichtige jetzt.“
Und vielleicht hat ja auch Carlo Ancelotti Scienzas Leistungen mitbekommen. Direkten Kontakt mit dem neuen brasilianischen Nationaltrainer gab es allerdings noch nicht. „Ich denke, es ist ein weiter Weg“, enthüllte Scienza seinen Traum von der Selecao. „Aber jeder darf träumen, warum nicht. Mein Weg bis hierher war schon unglaublich.“
Zunächst ging es aber mit dem Bus zurück nach Heidenheim. Dabei wurde auch die eine oder andere Flasche Bier geleert.
„Ab morgen ein bisschen runterfahren und den Urlaub genießen“, lautete Scienzas Plan für die nächsten Wochen. „Das haben wir uns verdient nach dieser sehr anstrengenden und schweren Saison mit einem glücklichen Ende.“