Vor Wochen wäre die Vorstellung noch komplett absurd gewesen, mittlerweile diskutiert man im Umfeld des FC Bayern aber sehr ernsthaft, ob am Ende der unrühmlichen Trainersuche nicht doch Thomas Tuchel auch in der kommenden Saison die Geschicke leitet.
Wer rudert wie weit zurück?
Der eigentlich schon gefeuerte Trainer macht weiter, plant den Kader, geht unter anderem die wichtige Mission „Finale dahoam 2″ in der Champions League an? Hört sich eigenartig an, ist nach geplatzten Engagements von Xabi Alonso, Sebastian Hoeneß, Julian Nagelsmann, Ralf Rangnick und zuletzt selbst Oliver Glasner aber nicht (mehr) ausgeschlossen.
Dafür, dass es so weit kommt, müssten einige Akteure im Bayern-Kosmos aber zurückrudern – teilweise sehr weit. Denn eine Rolle rückwärts bei Tuchel müsste auch in Sachen PR so verkauft werden, dass gerade die Bosse des FCB ohne zu großen Gesichtsverlust aus der Geschichte kommen. SPORT1 zeigt, wer sich wie weit bewegen müsste.
MAX EBERL
Der Sportvorstand ist – trotz Mega-Stress in der Trainersuche – in der komfortabelsten Lage aller Bayern-Bosse, was das Thema Tuchel angeht. Denn mit der Trennung von Tuchel hatte Eberl nichts zu tun.
Noch bevor der Nachfolger von Hasan Salihamidzic seinen Dienst am 1. März antrat, hatte die Führung das Aus des Trainers beschlossen. Auf diesen Punkt kann sich Eberl jederzeit berufen und hält sich im Bosse-Durcheinander seit Wochen schadlos.
Schon bei seiner Vorstellung erklärte er, der Klub (lies: nicht er) habe „eine Entscheidung gefällt, die ich absolut für richtig und nachvollziehbar fand.“ Explizit aber „um Klarheit zu schaffen“ – Eberl bezog sich nie darauf, dass die Entscheidung als solche und aus sportlicher Sicht richtig sei. Er betonte zudem, sie nicht „alternativlos“ genannt zu haben.
Wenn die Bosse Jan-Christian Dreesen (CEO), Herbert Hainer (Präsident) und Christoph Freund (Sportdirektor) „das Gefühl hatten, dass das der richtige Impuls ist, um die letzten Monate anzugehen, ist es für mich eine richtige Entscheidung“, sagte Eberl seinerzeit und betonte: „Ich war nicht involviert und habe im Hintergrund nicht mitgewirkt.“
Seit der Sportvorstand involviert und bei den Mannschaftsbesprechungen dabei ist, stärkt er den Trainer öffentlich, lobt ihn stets und weist, wie nach dem Achtelfinal-Rückspiel gegen Lazio Rom (3:0) in der Champions League, wiederholt darauf hin, wie gut die Spieler eingestellt werden und wie gut Tuchel und sein Trainerteam die Spiele vorbereiten.
Und beim Thema „Weiter mit Tuchel?“ hielt sich Eberl auch nach dem Wolfsburg-Spiel auffällig zurück, als er zu SPORT1 sagte: „Ich kam hierher, da wurde das Agreement geschlossen, das von beiden Seiten auch noch mal bestätigt wurde. Dementsprechend gibt es nichts anderes dazu zu sagen.“
Was man aber sagen kann: Für Eberl wäre ein Verbleib von Tuchel auch in der Außendarstellung kein Problem.
SPIELER
Zu Beginn und in der Transferphase im Sommer knirschte es öffentlich merklich zwischen bestimmten Spielern und Tuchel. So forderte der Trainer die schon bald omnipräsente „Holding Six“ ein, Joshua Kimmich betonte, er sei „ein Sechser“, Leon Goretzka wurde in Gerüchten zum Verkaufskandidaten.
Am Ende kam kein neuer Abräumer, Bayern kriselte sich in die Rückrunde hinein und Tuchels nahender Abgang wurde öffentlich. Der Trainer wurde sichtlich gelöster, sagte selbst „Klarheit bringt Freiheit“ und hat in der Mannschaft mächtige Fürsprecher.
So stellte ausgerechnet Kimmich, den Tuchel zwischenzeitlich auf die weniger geliebte Rechtsverteidigerposition verschoben hatte, dem Coach ein glänzendes Zeugnis aus: „Für den Trainer ist die Situation ungewöhnlich. Dafür macht er das wirklich herausragend. Wie motiviert er noch ist, man könnte es an deren Stelle ja auch anders angehen.“
Und auch Thomas Müller, der sich oft auf der Bank wiederfand, stärkt die Position des Trainers: „Er hat immer seinen Job gemacht. Er hat uns immer so gut eingestellt, wie er es für richtig gehalten hat.“
Dazu passt, dass sich laut Sky und Bild jetzt ein Großteil der Spieler für eine Weiterbeschäftigung von Tuchel starkmacht – darunter Kapitän Manuel Neuer.
JAN-CHRISTIAN DREESEN
Der Vorstandsvorsitzende machte beim Tuchel-Aus im Februar nicht die beste Figur. Erst heizte er Tage vor der Verkündung Spekulation an, als er auf eine Fan-Frage („Fliegt Tuchel oder fliegt er nicht?“) bei der Einfahrt in die Tiefgarage schmunzelnd entgegnete „Schaun mer mal …“
Zwei Tage später war der Trainer-Abgang offiziell – wie einvernehmlich die Trennung war, dazu widersprachen sich die Akteure aber. Dreesen betonte auch Tage später noch mehrfach, man habe mit dem Trainer „gemeinsam gesprochen und miteinander entschieden“. Tuchel ließ schon damals durchscheinen, dass er gerne weitergemacht hätte.
Vor dem Stuttgart-Spiel (1:3) benannte Tuchel dann ganz klar: „Der Verein hat die Initiative ergriffen“, danach habe man sich „geeinigt“.
Dennoch lief die Trennung von Tuchel unter CEO Dreesen deutlich sauberer als das bis heute nachhallende Aus von Julian Nagelsmann unter Vorgänger Oliver Kahn, Dreesen und Co. nahmen ihre Stars in die Pflicht, statt den Trainer direkt zu feuern.
Auch jetzt schlägt der CEO milde Töne in Richtung Tuchel an, lässt fast Reue erkennen. „Man muss die Dinge aus der Situation heraus dann bewerten, indem man auch Entscheidungen fällt und es war damals eine total andere Situation“, sagte er rückblickend auf den Februar nach dem Halbfinal-Hinspiel gegen Real Madrid in der Champions League. Noch in der Hoffnung auf einen CL-Sieg meinte der 56-Jährige: „Dann sind wir gemeinsam glücklich und gehen getrennte Wege.“ Auch wenn es nicht so kam, scheint das Tischtuch zwischen Tuchel und Dreesen nicht zerschnitten. Immerhin können sich Situationen ja auch ändern.
CHRISTOPH FREUND
Wie bei Dreesen und Präsident Herbert Hainer stellt sich auch beim Sportdirektor zur Rolle rückwärts mit Tuchel diese grundsätzliche Herausforderung: Rückblickend zugeben, dass die Trennung ein Fehler war, und beim bereits geschassten Trainer um eine zweite Chance bitten.
In Freunds Fall kommt erschwerend hinzu, dass er sich gemeinsam mit Eberl seit Wochen und Monaten um einen anderen Coach als Tuchel bemüht, damit aber bis heute keinen Erfolg hatte.
Und der Österreicher verkündete vor nicht einmal zwei Wochen mit einem eindeutigen Statement noch einmal deutlich, dass es keine Chance auf einen Tuchel-Verbleibt gebe. Man habe mit ihm „eine Vereinbarung geschlossen vor 1-2 Monaten, und daran wird sich auch nichts ändern“, stellte Freund im polnischen Viaplay klar.
HERBERT HAINER
Präsident Hainer tat es Freund Anfang Mai gleich, betonte am Rande der Meisterschaft der Bayern-Frauen gegen Leverkusen: „Die Vereinbarung steht.“
Außerdem sei er „überzeugt, wir werden einen guten Trainer präsentieren.“ Es könnte ein kurioses Gespräch werden, wenn Hainer Tuchel bitten sollte, die Bayern auch kommende Saison zu trainieren.
Zumal ausgerechnet der Präsident als einziger Bayern-Boss auch mit dem Namen Ralf Rangnick von den Verhandlungen berichtet hatte und nach dem Real-Hinspiel freimütig verkündete: „Wir sind mit Ralf in guten Gesprächen „Er ist ein exzellenter Kenner der Fußballszene. Wenn es so kommen sollte, ist er eine sehr gute Wahl. Es wird sich nicht mehr allzu lang hinzögern.“
Nach SPORT1-Informationen sagte Rangnick dann am Tag darauf aber überraschend ab.
KARL-HEINZ RUMMENIGGE
Im Vergleich zu seinem Aufsichtsratskollegen Uli Hoeneß hielt sich Rummenigge zum Thema Tuchel eher zurück.
Der frühere CEO sprach im Herbst darüber, dass Tuchel „anfangs offenbar ein wenig mit der Mannschaft gefremdelt hat, jetzt einen sehr guten Fit mit ihr gebildet hat“. Nach der Trennung gab er zu Protokoll, der „Fit zwischen Trainer und Mannschaft“ habe nicht den Wünschen entsprochen und er wünsche sich explizit wieder einen Trainer „der mit dieser Hingabe den Klub betreut, wie das Jupp und Pep gemacht haben.“
Durchaus auch ein Seitenhieb gegen Tuchel, genauso nahm Rummenigge aber einige agierende Bosse der Bayern ins Gebet und schimpfte in der spanischen as, das man in Sachen Kontinuität vom Kurs abgekommen sei und zu viele Geheim-Informationen in den Medien landen würden.
ULI HOENESS
Nach der schallenden verbalen Ohrfeige, die der Aufsichtsrat und Ehrenpräsident seinem Noch-Trainer vor wenigen Wochen öffentlich verpasste, scheint es aktuell schwer vorstellbar, wie gerade Hoeneß und Tuchel vermitteln, dass sie sich nun doch auf eine erneute Zusammenarbeit einlassen.
Wie funktioniert das, wenn der immer noch mächtige Klub-Patron dem Trainer vorwirft, er wolle und könne keine jungen Spieler entwickeln.
Auch wenn Hoeneß bei seinem Auftritt auf einem FAZ-Kongress betonte, er verstehe sich „sehr gut“ mit Tuchel – die öffentliche Versöhnung von Trainer und Ehrenpräsident stellt eine ordentliche Herausforderung dar.
THOMAS TUCHEL
Auf die harten Hoeneß-Aussagen reagierte der Coach verärgert und konterte, derlei Vorwürfe seien „absolut haltlos“ und er selbst sei dadurch in seiner Trainerehre verletzt.
Lässt sich Tuchel nicht nur die Quasi-Entlassung, sondern auch die Attacke vom Aufsichtsrat gefallen und macht trotzdem weiter, weil Bayern (böse gesagt) keinen Besseren findet?
Durchaus süffisant stellte der 50-Jährige kürzlich fest, der Verein suche seit Februar „intensiv“ und nach dieser Zeit und der getroffenen Vereinbarung sei es „eine schlechte Motivation, dann irgendwie zu sagen: Ach jetzt machen wir doch wieder mit dir, können wir nochmal reden? Nee, nee, von meiner Seite ist das im Moment eindeutig.“
Tags zuvor hatte Tuchel noch für Verwunderung gesorgt, weil er auf SPORT1-Nachfrage meinte, es sei „immer alles möglich“, als es um eine mögliche Auflösung des Trennungsbeschlusses ging.
Klar ist: Neben Hoeneß müsste vor allem Tuchel weit über seinen Schatten springen, sollte er wirklich Trainer über das Saisonende hinaus bleiben.