Schon vor 35 Jahren war eine Meisterschaft für den FC Bayern München kein ganz besonderes Ereignis mehr.
Ein Tag, der Uli Hoeneß verstörte
Als die Bayern am 32. Spieltag der Saison 1989/90 ihren 12. Titel mit einem kargen 1:0 gegen den FC St. Pauli einfuhren, wollten das an einem Mittwochabend nur 18.000 Menschen im Olympiastadion sehen. So aber sollte die Saison nicht enden, dachte sich Manager Uli Hoeneß und organsierte für umgerechnet 150.000 Euro eine ganz große Sause - die im ganz großen Chaos enden sollte.
Bayern bekam für Meisterfeier Sondergenehmigung
Die Bayern erwirkten beim DFB eine Extragenehmigung für das letzte, sportlich bedeutungslose Heimspiel gegen Borussia Dortmund. Weil sie den Titel an jenem 12. Mai 1990 groß feiern und sich bei den Fans bedanken wollten - auch bei den neu hinzugekommenen aus der DDR - wurde gegen die Goldene Regel verstoßen: dass alle Partien der letzten beiden Spieltage gleichzeitig anzufangen hatten. Während der Rest der Liga brav um 15.30 Uhr spielte, durften Bayern und der BVB erst um 18.30 Uhr ran - alles wegen des Rahmenprogramms.
Ab 15.15 Uhr gab es ein Vorspiel der A-Jugend gegen den FC Kempten, das vermutlich nur wenige echte Fans interessierte, denn der Meister stand ab 16 Uhr noch auf dem Marienplatz, ließ sich vom Oberbürgermeister Georg Kronawitter ehren und von 20.000 feiern. Die Stimmung war so euphorisch, dass sich Trainer Jupp Heynckes davon mitreißen ließ und ausrief: „Ich verspreche euch, dass wir nächste Saison den Europapokal holen.“
Bayern holte ihn nicht - was zu Heynckes' Aus im Jahr darauf beitrug. Als Heynckes viele Jahre später mit Bayern das Triple 2013 holte, witzelte er übrigens, dass er sein Versprechen nun ja endlich eingelöst habe.
Bayern vs. BVB war nie nebensächlicher
Um 17 Uhr zogen Musikkapellen ins Stadion ein, um 17.45 Uhr begann eine Autoshow, zehn Minuten später kamen die Meisterspieler in Cabrios eingefahren und drehten eine Ehrenrunde auf der Tartanbahn. Dann gab es noch ein paar Salutschüsse, ehe ab 18.30 Uhr die Meisterehrung durch den DFB erfolgte. Kurz darauf erfolgte dann endlich der Anpfiff.
Nie war ein Spiel zwischen den Bayern und dem BVB nebensächlicher, obwohl die Gäste noch gern Vizemeister geworden wären, war auch bei ihnen die Luft raus. Immerhin, unterhaltsam war es dann doch, weil Bayern sich noch etwas Mühe gab.
Radmilo Mihajlovic, der Millionenflop aus Jugoslawien, krönte seine beste Saisonleistung mit dem 1:0 (6.). Der junge Thomas Strunz (55.) in seiner ersten Bayern-Saison und Roland Grahammer (68.) verscheuchten jegliche Zweifel am Spielausgang. Nach Chancen endete diese Partie 10:0, doch hinterher waren alle froh, dass sie überhaupt endete.
Chaos nach vermeintlichem Abpfiff
Es mangelte nicht an Kuriositäten und skurrilen Szenen. Nach sechs Minuten traf der Ende 2024 verstorbene BVB-Keeper Teddy de Beer mit seinem Abschlag Schiedsrichter Wolf-Rüdiger Umbach am Kopf, der ließ sich zur Pause mit Brummschädel auswechseln.
Assistent Joachim Ren, ein Schweizer Austausch-Schiri, sollte die Fußballparty über die Bühne bringen. Leichter gesagt als getan. Das Chaos setzte in Minute 84 ein, als sich bereits Hunderte Bayern-Fans, die den Sicherheitsgraben überwunden hatten, am Spielfeldrand aufreihten.
Nach einem Abseitspfiff von Ren glaubten einige an den Schlusspfiff und der Platzsturm brach los. Das Motto der Spieler: Rette sich, wer kann. Nicht jedem gelang es. Mihajlovic wurden Trikot, Socken und Schuhe vom Leib gerissen, Olaf Thon der Rücken zerkratzt („Ich musste einen Ringkampf gegen 35 bestehen“), Torwart Raimond Aumann beklagte „Würgemale am Hals“ und versicherte: „Ich hatte Angst um mein Leben!“ Dortmunds Stürmer Frank Mill erzählte, auf ihn sei „einer zugekommen, der hatte mindestens drei Promille“.
DFB erzwingt Fortsetzung
Die Spieler hatten keine Lust mehr auf eine Fortsetzung, gaben erste Interviews und zogen die Trikots aus. In der Bayern-Kabine kreiste der Champagner, während bereits das Reinigungspersonal anrückte. Doch DFB-Ligasekretär Winfried Straub bestand auf Wiederanpfiff, ansonsten würden die Punkte an den BVB gehen.
Als der Stadionsprecher das durchsagte, stürmten dessen Fans den Rasen, gerieten prompt mit Münchnern aneinander – aber nicht allzu heftig. Die Polizei war auch im Einsatz, nur keine Spieler. Vorläufig. Rund 15.000 Fans fluteten den Rasen, viele in der Annahme dass nun das Open-Air-Konzert mit Umberto Tozzi und Ricchi e Poveri begänne. Doch noch forderte der DFB sein Recht.
Im Bericht der Nachrichtenagentur SID las sich das Folgende damals so: „25 Minuten lange dauerten die vergeblichen Bemühungen der Sicherheitskräfte, das chaotische Happening einigermaßen zu ordnen. Dann kehrten die 22 Profis mit verkehrten Rückennummern und champagnergefüllten Pappbechern zurück und kickten noch drei Minuten lang das runde Leder gegenseitig zu, ehe sich erneut eine rot-weiße Lawine über den Platz ergoß.“
Hoeneß: „Ich war zum ersten Mal konsterniert“
Nun kapitulierte auch der tapfere Herr Ren aus der Schweiz, der sich zuvor auf die Ersatzbank stellte, um sich einen Überblick zu verschaffen und für das lustigste Foto des Chaostages sorgte. Er pfiff nach 87 gespielten Minuten ab. Der regelkundige BVB-Trainer Horst Köppel hoffte auf die Punkte, allein schon weil die Unterbrechung mehr als 30 Minuten gedauert hätte - womit er irrte. Trotzdem hörte man ihn feixen: „Jaaaa - Abbruch, 0:2! Wir sind Vize-Meister!“
Doch sein Präsident wollte so nicht gewinnen, Gerd Niebaum sagte: „Wir wollten jetzt kein Wasser in den Wein schenken!“ So wurde ein Bundesligaspiel, das nur 87 Minuten dauerte und trotzdem alles in allem viel zu lang war, offiziell gewertet. Wo kein Kläger, da kein Richter.
Dann stiegen die Feierlichkeiten. Im Stadion für die Fans, in der Schlossgaststätte Leutstetten für Mannschaft, Angehörige und VIPs. Da erlebten sie einen neuen Uli Hoeneß, der tief in der Nacht nachdenkliche Worte sprach: „Das war heute ein Rückschlag. Heute war ich zum ersten Mal konsterniert. Wir müssen uns überlegen, ob wir das Rad nicht manchmal überdrehen. Die Zuneigung der Fans war heute zu viel des Guten.“ Geringer ist sie seither nicht geworden, bloß dass nationale Titel nicht mehr solche Emotionen beim Anhang des Rekordmeisters auslösen.