Nirgendwo sonst in einem Bundesliga-Stadion wird in diesen Wochen so schnell deutlich, was sportlich noch auf dem Spiel steht, wie in den Mixed Zones. Dort, wo sich Fußballer und Journalisten nach einer Partie zum Gespräch treffen. Konzentrieren sich die Reporter auf das, was sie zuvor auf dem Platz gesehen haben, scheint die Platzierung in der Abschlusstabelle noch ungeklärt. Zielt aber eine Frage nach der anderen nur auf die Zukunft ab, ist die Sache längst festgefahren. So wie in Leverkusen.
Muss Andrich wechseln?
Deshalb wusste Robert Andrich, als er am Samstag nach dem 2:0 gegen den FC Augsburg in den besagten Bereich kam, wohl auch schon, was ihn erwartete. Ein Blick in die Glaskugel war erwünscht. Aber verhehlen, dass die ständigen Gerüchte um einen Abschied von Trainer Xabi Alonso seine Kollegen und ihn durchaus tangieren, wollte er sowieso nicht mehr. „Ich muss sagen, dass es insgesamt sehr laut ist um die Mannschaft, und das merkt man als Spieler”, gab der 30-Jährige offen zu.
„Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es uns nicht beeinflusst, weil es offensichtlich ist, dass er entweder bleibt oder geht“, ergänzte Andrich. „Je näher wir dem Saisonende kommen, spielt das schon eine Rolle. Es wäre auch schlimm, wenn man das als Team so einfach abschütteln kann. Wir lassen uns einfach überraschen, was passiert.“ Zu welchem Zeitpunkt ein Entschluss zu erwarten sei, wisse er laut eigener Aussage selbst nicht und schmunzelte: “Wir erfahren so etwas immer durch die Presse.“
Andrich ist oft nur noch Joker
Alonsos Zögern bleibt also auch drei Spieltage vor dem Saisonende ein nicht zu unterschätzender Schwebezustand. Schließlich laufen die Kaderplanungen für die kommende Saison im Hintergrund bereits auf Hochtouren und klar ist bisher nur, dass Leverkusen vor einem Umbruch steht. Wie groß dieser aber ausfällt und wer die Rheinländer verlassen will, hängt nicht zuletzt vom Spanier ab. Vieles ist ungewiss. Die Bosse wie Fernando Carro und Simon Rolfes warten, die Spieler ebenfalls. Und auch Andrich gehört zu denjenigen, die genau hinschauen werden.
Warum? Weil Andrichs Rückrunde so ziemlich das genaue Gegenteil seiner letztjährigen zweiten Halbserie ist - und zwar im negativen Sinne. Der zweikampfstarke Mittelfeldspieler war im Vorjahr noch neben Granit Xhaka gesetzt und ein absoluter Erfolgsfaktor der Werkself. Auch Bundestrainer Julian Nagelsmann blieb das nicht verborgen und nominierte ihn für die Heim-EM. Dort stand er in vier von fünf Spielen in der Startelf der deutschen Nationalmannschaft und fungierte als persönlicher Bodyguard von Toni Kroos.
Doch inzwischen hat sich die Situation grundlegend geändert. Kroos ist nicht mehr da und Andrichs Status längst nicht mehr derselbe. Im DFB-Team nicht - und bei Bayer erst recht nicht. Unter Alonso gilt er spätestens seit Beginn der Rückrunde nur noch als Nebendarsteller, er fiel in der internen Rangliste der Mittelfeldspieler hinter Xhaka, Exequiel Palacios und Aleix García auf Platz vier zurück. Von den 22 Pflichtspielen, die Leverkusen in diesem Kalenderjahr bestritt, durfte Andrich nur neunmal beginnen.
Ist Andrichs WM-Traum in Gefahr?
Natürlich steht für den gebürtigen Potsdamer, der noch bis 2028 an die Werkself gebunden ist, außer Frage: So wie zuletzt kann es nicht weitergehen. Der kicker berichtete deshalb, dass der Nationalspieler im Sommer auf einen Wechsel drängen könnte, sollte sich seine Rolle in Leverkusen nicht deutlich verbessern. Entscheidend wäre dafür, ob Alonso bleibt oder nicht - und falls ja, welche Perspektiven sich ihm für die Zukunft eröffnen. Denn fest steht auch: Seinen großen Traum, die WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko, will er nicht gefährden.
Für Andrich könnte es immerhin die einzige mögliche WM-Teilnahme seiner Karriere sein. Ohne einen Stammplatz im Klub würden seine Chancen auf eine Berufung allerdings erheblich sinken, zumal Nagelsmann Anfang April den Druck auf seine Kandidaten erhöhte. Es seien „viele dabei, die nicht ihre Topform von vor drei Monaten haben“, sagte er und fügte hinzu: „Die Spieler müssen im Verein spielen, das ist das alles Entscheidende. Da müssen wir hinkommen. Jeder Spieler hat seine Eigenverantwortung.”
“Wer nominiert ist, muss auf Sicht am Peak seiner Leistung sein. Sonst wird es schwierig", sendete Nagelsmann die deutliche Botschaft, dass er mehr als seine Vorgänger auf aktuelle Leistungen achtet. Den Status als Stammspieler erhebt er so schon fast zur zwingenden Voraussetzung für eine Nominierung: „Die Spielzeit der Spieler im Verein, die kann ich nicht ersetzen.” Worte, die bei Andrich sicherlich die Alarmglocken haben läuten lassen. Genau wie die letzten Länderspiele im März.
Andrich verlor seinen Stammplatz an Goretzka
Denn dass der Kampf um die beiden Plätze im defensiven Mittelfeld hart ist, musste Andrich nämlich bereits in den jüngsten Nations-League-Duellen gegen Italien erfahren. Rückkehrer Leon Goretzka stand zweimal in der Startelf, Pascal Groß und Angelo Stiller je einmal. Zudem scharrt der wiedergenesene Aleksandar Pavlovic mit den Hufen - Joshua Kimmich ließ Nagelsmann wegen des Überangebots auf der Sechs erneut hinten rechts agieren. Für Andrich, der zweimal erst in der Schlussphase eingewechselt wurde, könnte es aber generell eng werden, sollte er bei Bayer weiterhin so wenig spielen.
Ein neuer Trainer in Leverkusen, der die Karten neu mischt und ihm die Chance gibt, erneut zum Leistungsträger zu werden, wäre eine Lösung. Ein Vereinswechsel die andere. Bayer möchte Andrich eigentlich nicht abgeben, der Spieler wiederum seine Situation nach dem Ende der Saison in Ruhe bewerten. Doch sollte sein Urteil dann nicht entscheidend anders ausfallen als jetzt, wird er zwangsläufig über Alternativen nachdenken. Seinen Traum von der WM 2026 will er jedenfalls nicht aufs Spiel setzen.