Harry Potter hat offenbar etwas, das der neue Leverkusener Coach gerne hätte: die Fähigkeit zu zaubern. Dass der Nachwuchsmagier bereits früh von seiner Kernkompetenz erfuhr, ist allgemein geläufig. Erst zeigte er vor seiner Einschulung immer wieder unabsichtlich magische Effekte.
Er hat den vielleicht schwierigsten Job der Bundesliga
Wie soll das gelingen?
Später lernte Potter in Hogwarts, seine Begabung zu kontrollieren, brachte Gegenstände zum Schweben, öffnete Türen per Geisterhand und besiegte keinen Geringeren als den mächtigsten Bösewicht aller Zeiten. Neidisch, Erik ten Hag? Womöglich schon.
Ten Hag: „Niemand ist wie Harry Potter“
Die Situation, die der neue Trainer von Bayer Leverkusen im Rheinland vorfindet, ist äußerst vertrackt. In diesen Wochen und Monaten erlebt die Werkself einen gewaltigen Aderlass, wie es ihn in dieser Form in der Bundesliga vielleicht noch nie gab. Ein kleines bisschen Magie wäre da schon hilfreich. Aber ten Hag weiß: schwierig.
„Niemand ist wie Harry Potter“, gab der 55-Jährige in der vergangenen Woche zu. Ein Geständnis, das in den Niederlanden offenbar allzu gerne genutzt wird, um die Erwartungen zu dämpfen – und das einigen Fußballfans in Deutschland noch vertraut sein dürfte.
Genauso versuchte es der ehemalige Schalke-Coach Kees van Wonderen bei seinem Amtsantritt. Ein Zauberer könne „schnell ein Team konstruieren und gleichzeitig erfolgreich sein”, erklärte Ten Hag, um dann gleich einzuschränken, dass der Topfußball nicht so funktioniere. Vielmehr bedürfe es irdischer Kräfte.
Leverkusen verlor die gesamte Meisterachse
Die Liste der Spieler, die nicht mehr für die Werkself auflaufen, ist lang geworden: Kapitän und Torwart Lukas Hradecky, Florian Wirtz, Granit Xhaka, Jonathan Tah, Jeremie Frimpong und Amine Adli. Eine ganze Reihe junger Akteure wurde dafür bereits nachverpflichtet. Das wohl schwerste Erbe hat aber ten Hag selbst zu bewältigen. Er muss nicht nur ein schlagkräftiges Team von Grund auf formen, sondern auch in die Fußstapfen des größten Trainerstars der vergangenen Bundesliga-Jahre treten. In die von Xabi Alonso.
Bekanntlich gelang dem Spanier das Kunststück, den ewigen Zweiten aus Leverkusen zur ersten Meisterschaft der Klubgeschichte zu leiten. Doch Alonso ist nun Geschichte – und viele seiner Weggefährten auch. So richtet ten Hag den Blick demonstrativ nach vorne. „Mit dem Wind von gestern kann man heute nicht segeln“, stellte Alonsos Nachfolger zuletzt philosophisch fest. Gleichwohl seien von dem neuformierten Angebot zum Start mit Malik Tillman, Jarell Quansah oder Ibrahim Maza keine Wunderdinge zu erwarten, das betonen alle. Hierarchien müssen sich erst noch entwickeln.
„Wir haben viel Qualität dazubekommen. Die neuen Spieler haben einen guten Eindruck hinterlassen und wir hatten ja auch vorher schon starke Spieler“, sagte Geschäftsführer Simon Rolfes am Mittwoch beim Rheinischen Fußballgipfel. Jetzt liege es an ten Hag, der im Vergleich zu seinem Vorgänger ein autoritärer Coach ist, die nötigen Verbindungen innerhalb des Teams zu schaffen und das Zwischenmenschliche zu fördern. Heißt im Klartext: Anfängliche Schwankungen sind einkalkuliert. „Die Mannschaft kann gar nicht so stabil sein wie in den vergangenen Jahren“, unterstrich Rolfes.
Das Projekt Wiederaufbau ist ein Risiko für ten Hag
In der grundsätzlichen Ausrichtung seien Alonso und ten Hag „nicht völlig verschieden“, führte Rolfes aus. “Es ging und geht um Ballbesitz, schnelle Kombinationen und das Spiel nach vorne. In den Feinheiten, zum Beispiel in der Mannschaftsführung, ist nicht alles gleich. Aber es war auch nicht unser Plan, eine Kopie von Xabi zu holen. Uns war es wichtig, dass die Vorstellungen vom Fußball zusammenpassen. Und wir glauben, dass wir so eine neue Geschichte schreiben können.“ Dennoch bewegt sich ten Hag beim Projekt „Wiederaufbau Bayer“ zwischen einer großen Chance und einem gewissen Risiko.
Nachdem er in der Saison 2018/19 mit Ajax Amsterdam begeisterte und bis ins Halbfinale der Champions League stürmte, galt der 55-Jährige lange Zeit als einer der gefragtesten Trainer Europas. Allerdings beschädigte die folgende Zeit bei Manchester United seinen Ruf. In England teilten sich die Meinungen: Die einen sagten, ten Hag sei eine Katastrophe gewesen. Andere behaupteten, der Klub wäre schlichtweg ein Desaster. So sehen viele die Station im Rheinland als Gradmesser. Gelingt es ihm, seine Karriere wieder ins Positive umzuschreiben? Oder erlebt der Niederländer sein zweites Fiasko?
Ten Hag, der in Manchester erfuhr, wie es sich anfühlt, wenn Erwartungshaltung und Realität weit auseinanderklaffen, wirkt zumindest überzeugt, der richtige Mann für Alonsos Nachfolge zu sein. Sich der Herausforderung des radikalsten Umbruchs zu stellen, ist mutig und könnte die Sache bei United vergessen machen – falls der Plan funktioniert. Geht das Projekt jedoch schief, könnte auch seine eigene Laufbahn einen entscheidenden Knacks bekommen.
Noch ist der Bayer-Kader nicht fertig
Die Vorbereitung und auch der Pokalauftritt in Großaspach schüren noch keine Euphorie, alles lief eher durchwachsen. Hinzu kommen die beiden offensichtlichen Schwierigkeiten. Wenn Leverkusen heute Nachmittag gegen die TSG 1899 Hoffenheim in die neue Bundesligasaison startet, wird der Kader noch nicht fertig sein. Ein richtiges Einspielen, das endgültige Kennenlernen untereinander und das Bilden neuer Strukturen verschiebt sich somit in die laufende Saison hinein. Vor allem darf das Team aber keine Angst davor haben, mit den Mannschaften der vergangenen Jahre verglichen zu werden. Dass dies nicht so einfach ist, wie es klingt, versteht sich von selbst.
Als ten Hag kürzlich von einem Journalisten gefragt wurde, ob er befürchte, dass seine Arbeit in den kommenden Monaten noch stark mit der seines Vorgängers verglichen werden würde, schmunzelte er nur und antwortete knapp: „Ich bin mir sicher, dass ihr das machen werdet.“ Die erfolgreichste Ära in der 46-jährigen Bundesligageschichte der Werkself hinter sich zu lassen und neue Heldengeschichten zu schreiben, ist vielleicht seine bisher schwierigste Aufgabe. Und er hat keine Zauberkräfte, die sie ihm erleichtern.