Kein Xabi Alonso mehr, kein Florian Wirtz, kein Jeremie Frimpong, kein Jonathan Tah, kein Granit Xhaka, kein Lukas Hradecky: Von der einstigen Meistermannschaft sind bei Bayer Leverkusen nach einem großen personellen Aderlass nur noch einzelne Bruchstücke übrig. Wie es bei den Rheinländern nun weitergeht? Eine Frage, die in Fußball-Deutschland derzeit viel diskutiert wird. Auch bei Carsten Ramelow.
Ex-Profi Ramelow im Interview: "Die Klub-WM war ein totaler Flop"
„Die Klub-WM war ein totaler Flop“
Der 51-Jährige, der von 1996 bis 2008 bei der Werkself spielte und insgesamt 430 Pflichtspiele für den Klub absolvierte, schätzt im Interview mit SPORT1 die aktuelle Lage ein. Zudem findet Ramelow deutliche Worte zur in diesem Jahr reformierten Klub-WM. Als Spielergewerkschafts-Präsident kämpft der frühere Nationalspieler schon länger gegen die zu hohe Belastung der Spieler.
SPORT1: Herr Ramelow, Ihr früherer Verein, Bayer Leverkusen, muss sich nach den Abgängen von Erfolgstrainer Xabi Alonso, Lukas Hradecky, Jonathan Tah, Granit Xhaka, Jeremie Frimpong und Florian Wirtz neu erfinden. Wie schwer ist die aktuelle Situation?
Carsten Ramelow: Schon sehr schwer. Wichtig ist aber, die vergangenen beiden Jahre anders zu bewerten. Die waren ganz besonders. So außergewöhnlich gut und verdammt schwer zu toppen. Das, was jetzt kommt, muss also relativiert und vernünftig eingeschätzt werden. Bedeutet: Nicht alles, was unter Platz eins oder zwei liegt, ist zwangsläufig schlecht. Die Erwartungen müssen zurückgeschraubt werden. Bei allen – bei den Spielern, den Bossen und den Fans. Dennoch werden sie wieder ein Team haben, das oben mitspielen kann. Unter den ersten Fünf sehe ich Leverkusen auf jeden Fall.
SPORT1: Sind Sie überrascht, dass der Umbruch so groß ausfällt?
Ramelow: Nicht wirklich. Im Fußball ist es kein Geheimnis: Je besser ein Team funktioniert, desto besser ist das auch für jeden einzelnen Spieler. Und wenn man erfolgreich ist, kommen die großen Klubs und schnappen die besten Spieler weg. Die Abgänge sind sehr schmerzhaft, keine Frage. Aber die Verantwortlichen wussten, was kommt. Sie konnten sich lange genug darauf vorbereiten. Auf eine gewisse Art ist es sogar schön zu sehen, dass diese beiden wundervollen Jahre nun abgeschlossen sind und die Spieler ihre Wege weitergehen – wie Florian Wirtz zum Beispiel.
„Ich erinnere gerne an Liverpool und Klopp“
SPORT1: Die Liste der im laufenden Sommer gewechselten Schlüsselspieler ist lang. Welcher dieser Verluste wiegt am schwersten?
Ramelow: Ganz entscheidend ist die Trainerposition. Xabi Alonso erkannte schnell, worauf es ankommt, und formte die Mannschaft. Besonders imponierend fand ich, wie sie nie aufgegeben haben. Die Mentalität und Einstellung des Teams waren herausragend. Die größte Aufgabe des neuen Trainers wird es jetzt sein, Ähnliches hinzubekommen. Allerdings sind bisher viele junge und kaum erfahrene Spieler dazugekommen. Die Qualität eines Wirtz, Tah oder Xhaka können sie noch gar nicht erreichen.
SPORT1: Der neue starke Mann an der Seitenlinie ist Erik ten Hag – ein ganz anderer Typ als Alonso. Die richtige Wahl?
Ramelow: Für mich ist ten Hag eine gute Lösung. Von elementarer Bedeutung ist es, ihm eine faire Chance zu geben und Vergleiche zu Alonso zu unterlassen. Es ist nicht leicht, in die Fußstapfen eines so erfolgreichen Trainers zu treten – was jedoch nicht heißt, dass dieser Plan zum Scheitern verurteilt ist. Ich erinnere gerne an den FC Liverpool und Jürgen Klopp. Als er die Reds verlassen hat, dachten alle, dort gehe die Welt unter. Am Ende sind sie mit Arne Slot souverän Meister geworden. Alles ist möglich.
SPORT1: Während sich die Wechsel von Alonso, Wirtz, Tah und Frimpong über Monate hinweg abzeichneten, wirkte der Transfer von Xhaka nach Sunderland, einem Premier-League-Aufsteiger, einigermaßen seltsam und überraschend. Welche Gedanken gingen Ihnen bei dessen Abgangsmeldung durch den Kopf?
Ramelow: Letztlich ist es sein Thema. Das muss man akzeptieren. Mir persönlich nehmen solche Dinge aber teilweise die Lust am Fußball. Die Spieler werden mit viel Geld gelockt. Für welchen Verein sie dann spielen, scheint gar nicht mehr primär wichtig zu sein. Dass die Spieler alle zwei bis drei Jahre den Verein wechseln, ist völlig normal geworden. Es gibt keine Identifikation mehr. Ich war früher 13 Jahre lang in Leverkusen – und damit längst kein Einzelfall. Das gab es in anderen Klubs genauso. Leverkusen war irgendwann mein zweites Zuhause. Ich hätte zwischendurch auch wechseln und woanders vielleicht mehr Geld verdienen können. Aber das war für mich nicht ausschlaggebend. Heute hat sich das offenbar geändert. Nicht bei allen, aber bei vielen.
Wirtz? „Er wird sich da durchsetzen“
SPORT1: Xhaka, Wirtz und Frimpong sind in England. Frankfurt verlor innerhalb eines halben Jahres Omar Marmousch und Hugo Ekitiké. Und selbst der FC Bayern hat Probleme auf dem Transfermarkt. Die Bundesliga wirkt mehr denn je nur noch wie ein Zulieferer für große ausländische Klubs.
Ramelow: Absolut. Wir müssen darüber diskutieren, wie die Bundesliga ihre Attraktivität bewahren kann. Wenn Spieler nach England oder zu den Top-Klubs in Spanien oder Italien wechseln, ist das neben den monetären Anreizen oft noch sportlich nachvollziehbar. Anders sieht es aus, wenn jemand in die Wüste wechselt. Da muss man nicht mehr über das Fußballerische reden, das hat andere Gründe. Das Rad ist riesengroß. Wird das nicht aufgehalten – was sehr, sehr schwer wird –, läuft die Entwicklung immer weiter. Natürlich profitieren am Ende alle davon. Wenn es allerdings nur noch um Gewinnmaximierung geht, ist das für mich trotzdem der falsche Weg.
SPORT1: Auch der Wechsel von Wirtz war in den vergangenen Monaten ein großes Thema. Können Sie seine Entscheidung nachvollziehen, sich für den FC Liverpool und gegen den FC Bayern zu entscheiden?
Ramelow: Ob das eine gute Entscheidung war, werden wir alle erst in ein oder zwei Jahren wissen. Die Tendenz, dass Spieler immer früher ins Ausland wechseln, besteht schon länger. Das müssen wir akzeptieren. Liverpool ist ein sehr großer Verein und Florian spielt extrem gut. Er wird sich da durchsetzen, wenngleich es in England auch spannend ist. In der Premier League geht es anders zu als in der Bundesliga. Da muss er körperlich nochmal einen Tick zulegen – das weiß er selbst am besten.
Andrich neuer Kapitän: „Nicht umsonst Nationalspieler“
SPORT1: Ein großer Profiteur des Umbruchs bei Bayer scheint Robert Andrich zu sein, der das Kapitänsamt übernommen hat. Ist das eine gute Besetzung?
Ramelow: Aus meiner Sicht schon. Mir gefällt seine Spielweise. Er ist jemand, der vorangehen will und im Mittelfeld auch mal dazwischenhaut. Davon gibt es nicht viele, wenn man sich den Rest der Mannschaft anschaut. Und auch wenn er letzte Saison für seine Ansprüche nicht viel gespielt hat, hat er zweifellos Qualität. Robert ist nicht umsonst Nationalspieler.
SPORT1: Anders als die Konkurrenz aus München und Dortmund spielte Leverkusen im Sommer nicht bei der Klub-WM. Kann das im Laufe des Jahres zum Trumpf werden?
Ramelow: Es kann von Vorteil sein. Die Belastung darf nicht unterschätzt werden, denn der Körper verzeiht nichts. Die Trainer, die bei der Klub-WM dabei waren, achten jetzt natürlich darauf, dass sich die Spieler bestmöglich erholen. Aber ist das in der Form, in der es nötig wäre, überhaupt möglich? Die neue Saison beginnt bald, dann geht es Schlag auf Schlag. Wenn drei Wettbewerbe parallel laufen, passieren Fehler und Verletzungen schnell. Womöglich müssen gewisse Teams diesem Turnier dann nachträglich noch Tribut zollen.
Klub-WM? „Sinnlos und viel zu groß aufgezogen“
SPORT1: Apropos Klub-WM. Das Turnier spaltete die Fußballwelt. Sie sind mittlerweile Präsident der Spielergewerkschaft VDV. Wie fanden Sie es?
Ramelow: Sinnlos und viel zu groß aufgezogen – ein totaler Flop. Es wäre besser gewesen, wenn die Spieler richtigen Urlaub gemacht hätten. Den hätten sie nach der langen Saison gebraucht. Wenn sich Spieler zu sehr belasten, ist das Risiko für Folgeverletzungen groß, aber das ist verdammt schwierig zu kontrollieren. Jeder Coach, egal ob im Klub oder in der Nationalmannschaft, sagt dir, dass alles wichtig ist: jedes Training, jedes Freundschaftsspiel. Und man spürt schon selbst, dass es überall zieht und zwickt. Völlig normal. Diese Erfahrung habe ich auch gemacht. Der Körper meldet sich irgendwann.
SPORT1: Generell wird die Belastung für die Profis immer größer. Ein Extrembeispiel ist Julián Álvarez, der in der vergangenen Saison insgesamt 72 Spiele für Atlético Madrid und die argentinische Nationalmannschaft absolvierte.
Ramelow: Schon vor Jahren war klar, wohin es gehen würde. Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, an dem das Limit überschritten wurde. Wir hatten 2002 in Leverkusen das tolle Jahr. In dem bin ich mit der Liga, Pokal, Champions League und später der WM auch auf 60 Spiele gekommen. Sowas kann man mal machen – aber eben nicht jede Saison. Das ist Wahnsinn und einfach viel zu viel. Und es wird garantiert noch mehr kommen. Gibt es bald weitere Wettbewerbe? Sehen wir bald Spiele der Bundesliga an Weihnachten? Wer weiß, was sich die Verantwortlichen noch alles einfallen lassen, wenn man nicht dagegenwirkt.
SPORT1: Oft geht es auch nicht nur um die körperliche Belastung allein.
Ramelow: Genau. Nach einer harten Saison sind die Spieler mental völlig ausgelaugt. Von außen ist das vielleicht nicht immer nachvollziehbar. Dennoch muss man auch darauf achten. Als Profi spielt man lieber Spiele, als zu trainieren. Jeder würde das bestätigen. Irgendwann muss aber ein Stoppschild gesetzt werden. Mittlerweile werden in jede freie Lücke neue Turniere und noch mehr Spiele gesetzt. Das ist eine Entwicklung, die so einfach nicht weitergehen darf.
SPORT1: Wie würden Sie die Klub-WM denn konkret gestalten?
Ramelow: Für die kleineren Vereine war das ja eine tolle Sache. Zum Beispiel für Auckland, die sogar Urlaub nehmen mussten und das erste Spiel gegen den FC Bayern gespielt haben. Aber das Turnier gab es schon vorher in einem kleineren Rahmen. Das reichte doch vollkommen aus. Warum musste man es jetzt mit 32 Teams machen? Ich finde, man ist dadurch auch total übersättigt. Früher waren Spiele wie Bayern gegen Paris Saint-Germain etwas ganz Spezielles. Heutzutage – auch durch den neuen Champions-League-Modus – gibt es diese Partie gefühlt alle drei Monate. Das nimmt dem Fußball langsam den Zauber.