Grundsätzlich, das betonte Robert Andrich immer wieder, fühlte er sich in Leverkusen die ganze Zeit wohl. Trotzdem wollte er sich bis zuletzt nicht darauf festnageln lassen, was einen Verbleib über den Sommer hinaus betrifft. Zu enttäuschend verlief die vergangene Saison, in der der 30-Jährige nicht mehr über die Rolle des Reservisten hinauskam. Seine Zukunft knüpfte er deshalb eng an die Personalie des neuen starken Mannes, Erik ten Hag.
Die Chance seines Lebens?
Die Chance seines Lebens?
„Wenn ich irgendwie merken sollte, der Trainer steht nicht auf mich – das wird man ja vielleicht irgendwann im Laufe der Zeit – oder es passt gar nicht zusammen, dann muss man darüber nachdenken”, gab Andrich zu Beginn der Vorbereitung in Brasilien zu verstehen. „Aber mein erstes Credo ist, mich durchzusetzen und die Nummer eins auf meiner Position in der ersten Elf zu sein. Das ist das Einzige, woran ich denke.“ Erste Erkenntnisse dürfte er nun gewonnen haben.
Und diese gehen in eine Richtung, die sich sogar Andrich selbst vor ein, zwei Monaten nicht hätte träumen lassen. Denn die Angst, dass der neue Trainer nicht auf ihn stehen könnte, dürfte längst gewichen und ins komplette Gegenteil umgeschlagen sein. In Leverkusen castet man derzeit Führungsspieler – und Andrich scheint bei ten Hag so hoch im Kurs wie kaum jemand anderes zu stehen. Die Folge: Bei den jüngsten vier Testspielen trug er die Kapitänsbinde. Behält er das Amt auch über die Vorbereitung hinaus, wäre die wohl größtmögliche Wende perfekt.
Andrich? „Er macht es sehr gut in der Rolle”
Dass die Kapitänsfrage überhaupt offen ist, ist schon einigermaßen kurios. Torhüter Lukas Hradecky führte die Werkself in den vergangenen Jahren etatmäßig an, musste seinen Platz zwischen den Pfosten jedoch an Neuzugang Mark Flekken abgeben und steht vor einem Wechsel zur AS Monaco. Dessen früherer Stellvertreter, Jonathan Tah, spielt nun beim FC Bayern. So galt eigentlich Granit Xhaka als designierter Nachfolger Hradeckys. Doch der Schweizer sah sich für den laufenden Umbruch nicht bereit und ist ebenfalls weg.
Drei Leader, drei Abgänge – und eine größtenteils unerwartete Situation, die für Andrich wiederum die Chance seines Lebens sein könnte. Innerhalb weniger Wochen vom Bankdrücker und potenziellen Wechselkandidaten zum Spielführer eines Champions-League-Teams? Klingt verrückt. Wirkt aber momentan wie die kommende Realität. Zumindest gilt der Nationalspieler als Favorit auf den vakanten Posten. Nicht zuletzt, weil ten Hags getätigte Worte zu diesem Thema als klarer Wink pro Andrich gewertet wurden.
„Rob ist ein Leader. Das sieht man. Er kommuniziert. Er ist präsent. Er ist ein Vorbild für die Mannschaft“, lobte ten Hag seinen Mittelfeldakteur. „Er macht es sehr gut in der Rolle, sehr natürlich. Ich bin sehr zufrieden, was er auf dem Platz bringt, aber auch, was er drumherum in der Kabine macht. Er ist eine richtig starke Persönlichkeit. Und die brauchen wir. Ich bin sehr glücklich, ihn zu haben.“ Zumal Andrich nicht nur die Leitfigur auf dem Platz verkörpert, sondern auch Xhakas Position im defensiven Zentrum übernahm.
Andrich will unbedingt zur WM 2026
Seine Präsenz macht ihn derzeit unverzichtbar. Und Andrich selbst, so viel steht außer Frage, hat sich für die anstehende Saison viel vorgenommen, wie man überall merkt. Auch im Training reibt sich der Routinier auf und geht ständig voran. Ein Zustand, der ihm offenbar sehr gefällt. „Es ist ein gutes Gefühl, die Binde zu tragen. Daran kann man sich gewöhnen“, erklärte Andrich und versicherte, dass er die offizielle Entscheidung, ob er Kapitän bleibt, selbst noch nicht kenne. Falls es aber so kommt, rückt er seinem Ziel ein großes Stück näher.
Kapitän zu sein, hieße, dass seine Aussichten auf reichlich Spielzeit gut stünden. Reichlich Spielzeit würde bedeuten, dass sein oft formulierter Traum tatsächlich in Erfüllung gehen könnte: eine Nominierung für die WM 2026. Denn um dafür ernsthaft infrage zu kommen, muss er zwingend mehr Einsätze als in der vergangenen, für ihn so enttäuschenden Saison erhalten. „Wenn man wenig spielt, kein Stammspieler ist, dann kann man kein Nationalspieler sein“, sah Andrich zuletzt in einem Interview mit dem kicker selbst ein.
Andrich hat große Konkurrenz im DFB-Team
„Und klar ist: Ich will diese riesengroße Chance auf die WM nicht verpassen. Ich hätte mir vor ein paar Jahren nicht ausmalen können, dass ich mal bei einer Heim-EM dabei sein würde oder eine WM miterleben könnte“, sagte Andrich weiter, der im DFB-Team unter Zugzwang steht. Bundestrainer Julian Nagelsmann setzte zuletzt nicht mehr auf ihn. Bei den Nations-League-Finals saß er komplett auf der Bank, zuvor in den Viertelfinals kam er nur zu Kurzeinsätzen. Die Konkurrenz mit Leon Goretzka, Aleksandar Pavlovic, Angelo Stiller und Pascal Groß ist enorm.
Bei Bayer neuer Leader Nummer eins zu sein, wäre da wohl die perfekte Eigenwerbung. Und die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, ist hoch. Immerhin bieten sich ten Hag kaum Alternativen. Patrik Schick wäre eine Option, gilt aber genau wie Edmond Tapsoba als eher introvertiert. Jonas Hofmann müsste nach schwierigen Monaten erst mit Leistungen überzeugen, um ein Anwärter zu sein. Bleibt also fast nur Lautsprecher Andrich, der als großer Gewinner aus der schwierigen Anführersuche hervorgehen dürfte.