Marcell Jansen kennt den Fußball aus fast allen Perspektiven: als Nationalspieler, Bundesliga-Profi und bis Juni 2025 als Präsident des Hamburger SV e.V.
Marcell Jansen im Interview: "Das hat es in der HSV-Geschichte so noch nie gegeben"
Jansen: „Natürlich war das ein Risiko“
Inzwischen ist Jansen, der 2015 mit 29 seine aktive Profi-Karriere beendete, Mitgründer einer Firma, die sich um die mentale und körperliche Mitarbeitergesundheit kümmert, denn Mitarbeiter sollten seiner Meinung nach „als die echten Leistungssportler des Unternehmens gesehen werden“.
Im exklusiven SPORT1-Interview spricht der 39-Jährige über seine bewegte Zeit bei den Rothosen, die aktuelle Krise seines Ex-Klubs Borussia Mönchengladbach – und warum ihn sein Freund Vincent Kompany noch immer beeindruckt.
SPORT1: Herr Jansen, Sie haben mit 29 Ihre aktive Karriere beendet. Damals gab es einen Riesen-Aufschrei. Auch Rudi Völler meinte damals: „Jansen hat den Fußball nie geliebt.“
Marcell Jansen: Ich habe den Fußball absolut geliebt. Jetzt, zehn Jahre später, kann ich mit voller Überzeugung sagen: Es war genau der richtige Schritt. Ich war damals zwölf Jahre Profi und hatte schon meine komplette Jugend im Leistungssport verbracht. Irgendwann wusste ich, dass hoffentlich noch ein sehr langes Leben nach dem Fußball kommt – und ich wollte diesen Teil aktiv gestalten. Nach all den Jahren, in denen man als Profi sehr viel unterordnet, wollte ich etwas finden, das mich genauso erfüllt, wo ich Leidenschaft spüre und zu 100 Prozent authentisch dahinterstehen kann. Natürlich war das ein Risiko, ich hätte ablösefrei ins Ausland gehen können, aber ich habe mich ganz bewusst dagegen entschieden. Nicht gegen den Fußball – sondern für das Leben danach.
SPORT1: Und was entgegnen Sie Völler?
Jansen: Ich habe Rudi Völler in den sechs Jahren, in denen ich nach meiner Profikarriere noch im Amateurfußball gespielt habe, leider nie gesehen. (lacht) Rudi ist ja meines Wissens auch nicht ehrenamtlich im Fußball aktiv. Aber klar, Rudi ist unglaublich wichtig für den deutschen Fußball, und ich finde es gut, dass er damals den Fokus auf ein grundsätzliches Thema gelenkt hat. Für mich war nur immer entscheidend: Muss ich etwas des Geldes oder des Berufes wegen weitermachen? Ich durfte zwölf Jahre lang mein Hobby zum Beruf machen – das war ein großes Geschenk. Aber ich brauche eine hohe Identifikation mit meinem Klub und meinem Umfeld. Mit 29 wären sicher noch zwei, drei Jahre möglich gewesen, aber ich wollte nicht mehr. Ich habe auch eine Verantwortung mir selbst gegenüber. Ich finde es bis heute beeindruckend, wie Manuel Neuer oder Cristiano Ronaldo es schaffen, auf diesem Niveau so lange durchzuhalten.
SPORT1: Über Manuel Neuer wird aktuell viel gesprochen. Sollte er doch noch mal umdenken und für die WM zurückkehren?
Jansen: Man weiß, was man an Manuel Neuer hat – er ist nach wie vor einer der besten Torhüter der Welt. Im Spitzensport zählt das Leistungsprinzip, und er liefert. Wenn er weitermachen will, kann es nur er selbst entscheiden. Gleichzeitig hätte es Marc jeder gegönnt, weil er sich das über Jahre verdient hat. Eine schwierige, aber luxuriöse Situation – wir haben in Deutschland mehrere starke Torhüter, denen man das Vertrauen und die Chance geben kann.
Jansen über Kompany: „Vinnie ist ein super Typ“
SPORT1: Bei Bayern hat Neuer Vincent Kompany als Trainer, mit dem Sie befreundet sind. Gerade bekommt er von allen Seiten Lob. Wie sehen Sie ihn?
Jansen: Auch von mir gibt es Lob. Vinnie ist ein super Typ. Wir haben einen gemeinsamen engen Freund in Hamburg. Er ist sehr interessiert am Leben mit all seinen Facetten und hat auch immer schon unternehmerisch gedacht. Sein Weg war absehbar. Wenn man schaut, welche Trainer er hatte, wie er Fußball gespielt hat und wie er sich als Spieler kommunikativ gegeben hat, dann passt er sowas von in die heutige Welt hinein. Vinnie hat etwas Spezielles, ist auch mal kantig – mit einem guten Maß an Reflexion. Er ist nicht nur „Pro“, sondern auch „Kontra“, auf einem gesunden Level – so, dass man ihm das abkauft. Er ist schon jetzt ein großer Trainer.
SPORT1: 2008 sind Sie vom FC Bayern zum Hamburger SV gewechselt. Der Schritt von München nach Hamburg war ein Wechsel vom Glanz zur Nähe. Was haben Sie beim HSV gefunden, was Ihnen in München gefehlt hat?
Jansen: Der Wechsel zu Bayern war sportlich sehr wichtig für mich. Ich hatte damals richtig gut performt, war in meiner ersten Saison als junger Spieler direkt Stammspieler. Uli Hoeneß war in dieser Zeit eine sehr wichtige Bezugsperson für mich. Unter Ottmar Hitzfeld habe ich unglaublich viel gelernt, sportlich wie menschlich. Als dann Jürgen Klinsmann kam, hatte ich irgendwann das Gefühl, dass die Wertschätzung ein Stück weit verloren ging - das passiert im Fußball. Der Schritt zum HSV war dann genau richtig. Dort habe ich sofort gespürt, dass man mich wirklich wollte und mir vertraute.
Identifikation als Lebensprinzip
SPORT1: Sie waren der letzte Nationalspieler, den der HSV hervorgebracht hat. Wie stolz sind Sie?
Jansen: Ja, da bin ich schon sehr stolz drauf. Vor allem in den Zeiten, in denen wir mit dem HSV auch mal um den Abstieg gespielt haben, trotzdem fester Teil der Nationalmannschaft geblieben zu sein, hat mir viel bedeutet. Wenn man bedenkt, dass viele meiner Nationalmannschaftskollegen zu dieser Zeit um Meisterschaften oder in der Champions League gespielt haben, war das für mich eine besondere Wertschätzung und Anerkennung meiner Leistung. Noch wichtiger wäre mir aber, dass der HSV in Zukunft wieder mehrere deutsche Nationalspieler hervorbringt – das würde dem Verein und seiner Entwicklung enorm guttun.
SPORT1: Warum ist Ihnen der HSV so ans Herz gewachsen?
Jansen: Ich brauche diese Identifikation – das war in allen Klubs so. Wenn ich etwas mache, dann mit voller Überzeugung. Beim HSV waren es sieben Jahre als Spieler und insgesamt inzwischen 17 Jahre mit allen Rollen zusammen. Da wächst eine echte Verbindung, die weit über den Fußball hinausgeht.
Jansen: „Es hat mich berührt“
SPORT1: Sie waren Teil einer Mannschaft mit vielen Charakterspielern. Wer ist Ihnen bis heute besonders nah?
Jansen: Vor dem Aufstiegsspiel zu Hause im Volkspark gegen den SSV Ulm habe ich einige Jungs, mit denen ich lange zusammengespielt habe, gebeten, mir eine kleine Videobotschaft zu schicken. Das haben sie gemacht – unter anderem Thomas Rincón, Ivica Olić, Collin Benjamin, David Jarolim und Rafael van der Vaart. Das war ein sehr besonderer Moment für mich, weil es zeigt, dass da echte Verbindungen geblieben sind. Es hat mich stolz gemacht und berührt.
„Die intensivste Phase meines ganzen Fußballlebens“
SPORT1: Sie haben beim HSV nicht nur gespielt, sondern waren später auch Präsident des e.V. Wie blicken Sie auf diese Phase zurück?
Jansen: Emotional war das die intensivste Phase meines gesamten Fußballlebens. Als Profi trägt man natürlich schon viel Verantwortung, gerade als junger Mensch. Aber für einen großen Traditionsverein Verantwortung zu übernehmen – in einer Zeit, in der der Fußball komplexer und öffentlicher denn je ist – war eine ganz andere Erfahrung. Es war herausfordernd, aber auch unglaublich erfüllend. Für mich stand dabei nie eine Person im Vordergrund, sondern immer der Verein. Ich bin Mannschaftssportler, und genau das prägt auch mein Verständnis als Vereinsmensch. Den HSV repräsentieren und mitgestalten zu dürfen, war eine Ehre und eine der schönsten Aufgaben meiner Laufbahn.
SPORT1: Sie haben die ganze Zeit kein Geld bekommen, oder?
Jansen: Ja, das Präsidiumsamt ist ehrenamtlich – aber mit voller Verantwortung. Ich konnte mir das leisten und bin dankbar, dass ich diese Aufgabe übernehmen durfte. Natürlich bleibt dabei privat und beruflich manches liegen, aber ich habe in dieser Zeit unglaublich viel gelernt. Für mich war es eine bewusste Entscheidung aus Überzeugung, nicht aus finanziellen Gründen.
Jansen: Das hat sich beim HSV verändert
SPORT1: Sie haben beim HSV den Spagat erlebt zwischen Tradition und moderner Vereinsführung. Was waren die größten Herausforderungen?
Jansen: Die größte Herausforderung war, Tradition, Emotion und moderne Vereinsführung miteinander in Einklang zu bringen. Der HSV befand sich in einer großen Transformationsphase – mit vielen strukturellen Veränderungen, bis hin zum Wechsel der Rechtsform. In solchen Prozessen gibt es naturgemäß unterschiedliche Auffassungen und auch mal intensive Diskussionen. Als Präsidium und Hauptgesellschafter-Vertreter ging es darum, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen transparent zu gestalten und das Gesamtwohl des Vereins im Blick zu behalten. Am Ende sind wir mit einem gemeinsamen Ergebnis herausgegangen, das den HSV nachhaltig gestärkt hat. Wir haben den Frauenfußball zurückgebracht, die Mitgliederzahl deutlich gesteigert und wirtschaftliche Stabilität geschaffen. Darauf können wir stolz sein.
SPORT1: Was hat sich verändert?
Jansen: Der HSV hat sich in den vergangenen Jahren stark entwickelt – wirtschaftlich wie strukturell. In den letzten vier Geschäftsjahren konnte der Klub jeweils mit einem positiven Ergebnis abschließen, das hat es in der Geschichte des HSV so noch nie gegeben und gelingt auch nur wenigen Bundesligisten. Gleichzeitig wurden viele neue Infrastrukturen geschaffen und die Zahl der Sporttreibenden im e.V. auf ein Rekordniveau gesteigert. Trotzdem muss man ehrlich sagen: Der HSV hat in der Vergangenheit Phasen erlebt, in denen er nicht hanseatisch genug aufgetreten ist.
SPORT1: Das heißt?
Jansen: Wir haben uns phasenweise zu sicher gefühlt und zu wenig kritisch hinterfragt, was wir strategisch noch besser machen können. Oft waren wir eher im Verteidigungsmodus, statt im Gestaltungsmodus. Uns hat in manchen Phasen die Demut gefehlt, ohne die man im Fußball keine Nachhaltigkeit schafft. In den letzten anderthalb Jahren hat sich das deutlich verändert – und genau das macht Hoffnung für die Zukunft.
Kühne? „Wir hatten immer ein gutes Verhältnis“
SPORT1: Wie ist heute Ihr Verhältnis zu Investor Klaus-Michael Kühne?
Jansen: Wir hatten wirklich immer ein gutes Verhältnis, waren aber nicht immer einer Meinung. Er wird durch viele Personen vertreten. Die direkten Gespräche waren immer gut – Herr Kühne hatte immer ein offenes Ohr. Er ist HSV-Fan und hat viel für den Klub getan. Es ging nie unter die Gürtellinie. Ich bin mir immer treu geblieben.
SPORT1: Welchen großen Fehler würden Sie sich eingestehen?
Jansen: Natürlich habe ich auch Fehler gemacht. Es war eine sehr intensive Phase, in der der Verein noch nicht so stabil war wie heute – und das in Zeiten von Corona und den Jahren danach. In einem konkreten Fall hätte ich bei einem Konflikt zwischen Anteilseignern vielleicht etwas konsequenter handeln können. Der Prozess hat sich damals zwei bis drei Wochen zu lange hingezogen. Wichtig ist aber: Die Anteile wurden nicht vom e.V., für den ich mitverantwortlich war, sondern von einem Bestandsgesellschafter veräußert.
„Erleichtert und glücklich über die Entwicklung“
SPORT1: Wie blicken Sie heute auf den HSV – vor allem emotional?
Jansen: (lacht) Im Moment wirklich gut. Das 4:0 gegen Mainz hat mich sehr gefreut – vor allem, weil ich nach der Vorbereitung eher Bauchschmerzen hatte. Der HSV wirkt stabiler, mutiger und näher dran an der Bundesliga. Natürlich bleibt die Liga eng, aber aktuell bin ich einfach erleichtert und glücklich über die Entwicklung.
SPORT1: Als Trainer sitzt Merlin Polzin auf der Trainerbank. Bruno Labbadia hätte es auch gerne gemacht, doch dann entschied sich Stefan Kuntz für Polzin.
Jansen: Ich freue mich für Merlin, weil er den Verein, die Spieler und die Stadt kennt – das passt gut zusammen. Auch Bruno hätte super gepasst, er hat überall bewiesen, dass er erfolgreich arbeiten kann. Ich hatte ihn selbst zweimal als Trainer und weiß, wie stark seine Verbindung zu Hamburg ist. Wichtig ist jetzt, dass Kontinuität bleibt und man den Weg mit Ruhe weitergeht.
SPORT1: Der HSV hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach neu erfunden. Wo sehen Sie den Verein in fünf Jahren?
Jansen: (lacht) Hoffentlich als genau diesen Sehnsuchtsort – weiter in der Bundesliga, mit dem Blick nach Europa.
SPORT1: Was bedeutet Ihnen Hamburg heute – als Stadt, als Heimat und als Teil Ihrer Fußballgeschichte?
Jansen: Der HSV und Hamburg sind auf jeden Fall Heimat für mich. Wenn ich gefragt werde: „Gladbach oder HSV?“ Dann antworte ich immer: „Deine Mama oder dein Papa?“ Beide Klubs sind für immer in meinem Herzen.
Jansen leidet mit Virkus
SPORT1: Borussia Mönchengladbach steckt gerade in der Krise. Würden Sie Hamburg verlassen und gerne mit anpacken?
Jansen: Ich habe natürlich noch einen engen Draht zu Borussia – genauso wie zum HSV, zum FC Bayern oder auch zum DFB. Aber aktuell ist das kein Thema für mich. Borussia steckt sportlich in einer schwierigen Phase, doch die Lage wird mir oft zu schwarz gezeichnet. Roland Virkus hat den Klub in einer richtig harten Zeit übernommen, sportlich wie wirtschaftlich. Ich kenne ihn gut, er war früher mein Jugendtrainer, und ich weiß, wie sehr er für Borussia brennt. Der Verein hat Substanz, Charakter und ein starkes Umfeld – das wird sich durchsetzen. Ich helfe immer gerne mit Rat und Erfahrung, wenn man mich braucht, aber im Moment liegt mein Fokus klar auf meinen eigenen Projekten.
SPORT1: Tut Ihnen Virkus leid?
Jansen: Ich finde, Roland Virkus hat in einer sehr schwierigen Phase vieles richtig gemacht. Natürlich passieren Fehler, das gehört dazu. Was mir wirklich leidtut, ist die Art, wie teilweise über ihn gesprochen wurde. Da ging es oft nicht mehr um Kritik, sondern um persönlichen Umgang – und das wird einem Menschen mit so langer Vereinsgeschichte nicht gerecht. Er hat über Jahrzehnte für Borussia gearbeitet und den Verein durch schwere Zeiten geführt. Kritik ist legitim, aber sie sollte fair bleiben.