Kann ein dritter Torwart ein Führungsspieler sein? Normalerweise nicht, aber normal ist bei Bayer Leverkusen in dieser Saison wenig. Das Team zählt sage und schreibe 13 Neuzugänge und erlebt den wohl größten Umbruch der Bundesliga-Geschichte. Mehr denn je sticht da ein Akteur heraus, der eigentlich nie im Rampenlicht steht: Niklas Lomb, der Unterstützer hinter Mark Flekken und Janis Blaswich.
"Surreal": Fußballgott sogar auf der Bank
Der etwas andere Fußballgott
Lomb trägt seit 2008 das Bayer-Trikot, nur unterbrochen durch kurze Leihen nach Halle, Münster und Sandhausen. Allerdings bestritt er in diesem Zeitraum nur sieben Pflichtspiele für den Verein. Letztmals stand er im Dezember 2023 im Tor, als die Werkself mit 5:1 in der Europa League gegen Molde gewann und die nächste Runde bereits erreicht war. Sein Einsatz war eine Belohnung für seine Arbeit im Hintergrund und seine Loyalität.
Berühmtheit erlangt man so nicht, ungeheure Beliebtheit jedoch schon. Der 32-Jährige, den sie in Leverkusen nur Lombo rufen, ist längst ein absoluter Publikumsliebling. Zum Start der neuen Saison haben ihm die Fans gar den Beinamen „Fußballgott“ verpasst. SPORT1 hat mit ihm über die sportliche Situation der Rheinländer, seine besondere Rolle und das Leben als ewige Nummer drei gesprochen.
SPORT1: Niklas Lomb, Bayer Leverkusen ist als Tabellenfünfter in die Länderspielpause gegangen. Vieles ist noch im Fluss. Wie ist Ihr Gefühl, wenn Sie an die aktuelle Saison denken?
Niklas Lomb: Wir haben elf Punkte in der Liga, das finde ich nicht schlecht. Wichtig ist unsere Entwicklung zuletzt - was die Spielweise betrifft und auch die Ergebnisse. Alle spüren, dass es jetzt vorangeht. Einer Mannschaft, die auf so vielen Positionen neu besetzt ist, hilft das sehr fürs Grundgefühl.
„Der Trainer ist ein sehr direkter Typ“
SPORT1: Unter dem neuen Trainer Kasper Hjulmand ist Leverkusen noch ungeschlagen. Neben drei Siegen gab es drei Unentschieden.
Lomb: Der Trainer ist ein sehr direkter Typ und redet nicht drumherum. Uns sagt er ganz klar, was er will, was er von uns erwartet und wie unser Spiel aussehen soll. Er weiß auch, wie er die Mannschaft anpacken muss, um uns seine Ideen und Auffassungen zu vermitteln. Diese Klarheit tut gut.
SPORT1: Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes bewertete den Neuaufbau des Teams zuletzt als vollen Erfolg und ist überzeugt, dass im Sommer das Fundament für eine neue Titelmannschaft gelegt wurde. Zeigt das ein neues, forsches Denken innerhalb des Klubs?
Lomb: Leverkusen war nie ein Verein, der sich versteckt hat. Wir waren in den letzten Jahren fast immer international vertreten, die Double-Saison war dann natürlich das Highlight. Auch jetzt wollen wir nicht tiefstapeln, sondern unsere Ziele erreichen und am Ende auf jeden Fall unter den Top 4 landen. Mir gefällt diese Denkweise. Allerdings braucht es auch etwas Zeit, um auf einem Fundament in Ruhe etwas aufzubauen. Wir sind auf einem sehr guten Weg und haben viele Spieler mit großem Potenzial.
SPORT1: Vor einiger Zeit sagten Sie in einem Podcast, dass die Chemie im Meisterjahr perfekt war und die Mannschaft alle Charaktere hatte, die nötig waren, um maximal erfolgreich zu sein. Wie ist es im aktuellen Team?
Lomb: Die Teams lassen sich nicht miteinander vergleichen. Wir haben so viele Neuzugänge wie noch nie. In der jetzigen Phase geht es darum: Wie ticken die neuen Jungs? Wie packt man sie an? Was haben sie für Interessen? Die kommen ja nicht mit einem Fragenkatalog in die Kabine und danach ist alles klar. So etwas braucht Gespräche, Erlebnisse miteinander, Austausch. Wir waren ja auch nicht von Tag eins dieser Saison alle zusammen. Einige sind erst kurz vor Transferschluss dazugekommen. Aus meiner Sicht merkt man aber schon jetzt, dass wir uns inzwischen schon viel besser kennen und verstehen. Und zwar nicht nur auf dem Platz, sondern auch außerhalb. Das wirkt sich dann auch extrem positiv auf das Zusammenspiel aus.
„Möchte vorleben, was die Bayer-DNA ausmacht“
SPORT1: Der riesige Umbruch hatte auch für Sie persönlich Folgen. Bei den Bayer-Fans stehen Sie nun noch höher im Kurs als ohnehin schon. Und das, obwohl Ihre Chancen auf Einsätze sehr gering sind. Sie sind mit weitem Abstand am längsten von allen Spielern bei Bayer und sozusagen die größte „Identifikationsfigur“.
Lomb: Es freut mich unglaublich, dass die Fans das honorieren und mir diese Wertschätzung entgegenbringen. Am Ende geht es aber immer um die Mannschaft. Wir haben im Sommer enorm wichtige Leute verloren. Umso mehr zählt es, dass die verbliebenen Spieler, die Meister und Pokalsieger geworden sind, dafür sorgen, dass dieser Spirit aufrechterhalten bleibt. Nicht alleine durch mich, sondern auch durch die anderen aus der Meister-Mannschaft. In meinem Fall ist es aber so, dass ich schon seit meinem 15. Lebensjahr hier bin. Ich kenne den Klub in und auswendig und möchte vorleben, was die Bayer-DNA ausmacht. Man kann ja nicht erwarten, dass jeder neue Spieler direkt weiß, wie die Leute und die Fans hier gepolt sind, was diesen Klub ausmacht und welche Werte wir hier pflegen und leben.
SPORT1: Ist auch das Thema Identifikation etwas, das Sie gerade jetzt, in einer Zeit mit so vielen Neuzugängen, bewusst weitertragen?
Lomb: Ich gehe jetzt nicht zu jemandem und erzähle: „Hör mal zu, die BayArena hat so und so viele Sitzplätze, wir haben diese Titel gewonnen und solche Sachen.“ (lacht) Es geht vielmehr darum, die grundsätzliche Mentalität zu vermitteln. Leverkusen hat sehr, sehr lange versucht, Meister zu werden. Wir haben nie aufgegeben und haben es schließlich geschafft. Diese Denkweise hat sich bis heute nicht geändert. Wenn es an einem Tag mal nicht klappt, muss es direkt weitergehen – das will ich den Jungs vermitteln. Den Fußball an sich brauche nicht neu erklären.
SPORT1: Niklas Lomb Fußballgott – diesen Beinamen rufen die Leverkusener Fans seit dieser Saison beim Verlesen der Aufstellung. Eine Ehre, die zuvor nur Spielern wie Florian Wirtz, Kai Havertz oder Stefan Kießling zuteil wurde. Wie hört sich das für Sie an?
Lomb: Surreal. Es zaubert mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht. Dass die Fans mich so sehr ins Herz geschlossen haben, obwohl ich ein Spieler bin, der kaum Einsatzzeiten bekommt, freut mich unheimlich.
„Ich würde mich als Führungsspieler in Klammern setzen“
SPORT1: Sind Sie trotz Ihres Status als etatmäßige Nummer drei ein Führungsspieler?
Lomb: Schwierige Frage. Ein Team braucht Führungsspieler auf dem Platz. Da bin ich nicht. Im Training sieht die Sache etwas anders aus, weil ich jemand bin, der immer alles gibt und gewinnen will und in jedem Training Vollgas gibt. Dabei werde ich vielleicht auch mal etwas lauter. Das gehört für mich einfach dazu. Deshalb würde ich mich als Führungsspieler in Klammern setzen.
SPORT1: Wie können Sie sonst Einfluss auf Ihre Teamkollegen nehmen?
Lomb: Zum einen bin ich der erste Ansprechpartner, wenn die Jungs nach dem Training noch Abschlüsse, Freistöße oder Flanken üben möchten. Mark (Flekken) braucht die Pausen, die er bekommen kann, und auch Janis (Blaswich) muss schauen, wie er sich fühlt. Zum anderen arbeite ich im Kraftraum relativ viel zusätzlich – auch nach dem eigentlichen Training. Kommen neue Spieler dazu und sehen, dass sogar der dritte Torwart, der nie spielt, mehr macht, überlegen sie vielleicht auch, ob es nicht sinnvoll wäre, mehr zu machen. Also versuche ich, eine Vorbildfunktion einzunehmen.
SPORT1: Hört sich an, als wären Sie ein Meister der Eigenmotivation.
Lomb: Wenn ich zum Training komme, würde ich es als sinnlos betrachten, hier nur ein bisschen Larifari zu machen. Die Motivation, jeden Tag meine Grenzen auszutesten und anschließend behaupten zu können, dass ich alles gegeben habe, kommt bei mir einfach von innen heraus.
„Der Klub ist wie eine Familie für mich“
SPORT1: Hat aber nicht eigentlich jeder Torwart den Traum, die Nummer eins zu sein und regelmäßig Pflichtspieleinsätze zu absolvieren?
Lomb: Den gab es bei mir auch, aber ich bin jetzt 32 Jahre alt und Realist. Ich glaube, dass es viele Torhüter gibt, die gerne mit mir tauschen würden. Als junger Spieler dachte ich natürlich nicht, dass meine Karriere so verlaufen würde. Ich wollte auch eine Nummer eins werden und es gab Phasen, in denen ich mich fragte, ob ich den Verein vielleicht verlassen soll. Da habe ich überlegt: „Wie mache ich das jetzt? Sollte ich abwarten, ob sich etwas anderes ergibt, oder bleibe ich bei dem Klub, bei dem ich groß geworden bin und der mir eine gewisse Sicherheit bietet?“ Leverkusen wollte mich immer halten und hat mir immer eine große Wertschätzung entgegengebracht. Der Klub ist wie eine Familie für mich. Ich habe meine Entscheidungen nie bereut.
SPORT1: Fußballer wie Sie, die ihre gesamte Karriere bei ein und demselben Verein verbringen, werden immer seltener.
Lomb: Das hat bestimmt unterschiedliche Gründe. Man strebt heute immer nach dem Maximalen und möchte weiterkommen. Die Torwartposition ist in dieser Hinsicht sehr besonders. Nur einer spielt und während einer Partie wird nicht gewechselt. Es gibt keinen Feldspieler, der 17 Jahre in einem Verein ist und bloß sieben Spiele absolviert hat. Die allermeisten gehen vorher einen Schritt zurück oder sehen bei einem anderen Klub mehr Möglichkeiten. Auf Spielzeit oder sogar auf Titel. Andere wiederum suchen ein ganz anderes Abenteuer. In einer neuen Stadt, in einem neuen Land. Das sind alles Argumente, die ich total nachvollziehen kann. Es gibt natürlich auch Spieler, die sich schneller entwickeln als der Verein. Ich für meinen Teil bin hier glücklich und fühle mich hier wohl – mit allem, was dazugehört.
SPORT1: Ihr letztes Pflichtspiel bestritten Sie im Dezember 2023, seitdem saßen Sie nur noch draußen. An Spieltagen, an denen Sie nicht einmal auf der Bank sitzen dürfen, wärmen Sie sich mit Mark Flekken und Janis Blaswich auf. Was passiert danach?
Lomb: Alle Spieler kommen zurück in die Kabine, wir machen einen Kreis zum Heißmachen und dann trennen sich unsere Wege. Das ist für mich nach wie vor komisch und auch ein wenig ernüchternd. Ich kenne die Situation ja längst, aber man gewöhnt sich nie daran. Man will einfach bei seinem Team sein. Wenn die anderen raus auf den Rasen gehen, stehe ich schon unter der Dusche und schaue mir die Spiele später von der Tribüne aus an.
SPORT1: Wie schafft man es, diese Frustration nicht an sich heranzulassen?
Lomb: Zum Glück verfliegt die Ernüchterung ganz schnell wieder, weil der Teamgedanke über allem steht. Denn selbst wenn ich das Spiel auf der Tribüne verfolge, habe ich einen extrem hohen Puls. Es ist meine Mannschaft – da fiebere ich extrem mit. Ich bin total unruhig auf der Tribüne. Man hat dort keinen Einfluss und kann nur sitzen und hoffen.
„Würde gerne so lange weiterspielen, wie mein Körper es zulässt“
SPORT1: Ihr Vertrag endet im Sommer 2027. Gibt es etwas, das Sie mit Bayer noch erleben möchten?
Lomb: Ich durfte schon ein ganz besonderes Double-Jahr miterleben. Natürlich wünscht man sich, dass so etwas noch einmal passiert. Jetzt freue ich mich erst einmal darauf, Teil der neuen Mannschaft und Teil der neuen Aufgabe zu sein. Wenn dabei irgendwann noch weitere Titel herausspringen sollten, nehme ich die natürlich gerne mit. (lacht)
SPORT1: Können Sie sich vorstellen, Ihre Karriere in Leverkusen zu beenden? Oder reizt Sie noch eine andere Aufgabe?
Lomb: Ich würde gerne so lange weiterspielen, wie mein Körper es zulässt. Das steht fest. Wenn ich länger als bis 2027 auf diesem Niveau Fußball spielen kann und Leverkusen mich weiter halten möchte, ist das eine Top-Option.