So hat man Harry Kane in seiner Zeit beim FC Bayern selten erlebt: Niedergeschlagen, bedrückt, deprimiert. Die Adjektive, die das Innenleben des englischen Star-Stürmers nach dem Aus gegen Inter Mailand am treffendsten zu beschreiben versuchen, sprachen in jener Mittwochnacht eine klare Sprache.
Ist in Kane etwas zerbrochen?
Nach außen versuchte sich der 31-Jährige zwar gefasst den Medienfragen zu stellen, doch seine Augen sagten alles. Tränen schimmerten dort, er ließ sie nur nicht heraus. Es schien fast, als sei in Harry Kane an diesem Abend etwas zerbrochen. Kurzum: ein wahrer Wirkungstreffer.
Der langersehnte europäische Titel – ausgerechnet im „Finale dahoam“ – wird es wieder nicht werden für Kane. Seit rund anderthalb Jahrzehnten wartet er auf einen wichtigen Titel - und die Karrierejahre schwinden zunehmend.
Kane hadert mit sich und der Welt
„Es ist hart für uns, das hinzunehmen“, gestand Kane in der Mixed Zone. Während er üblicherweise in aller Ausführlichkeit Fragen beantwortet, waren es diesmal nur knapp mehr als zwei Minuten - eine beinahe melancholische Analyse: „Wir gehen so viel Risiko, betreiben so viel Aufwand …“
Dass das Projekt „Champions-League-Titel 2025″ an mehreren Baustellen scheiterte, ist kaum anzuzweifeln, die defensiven Patzer nicht zu ignorieren. Und doch gehört eben auch zur Wahrheit: Kane selbst sorgte offensiv nicht für das ganz große Feuerwerk.
„Wir müssen einen Weg finden, in den wichtigen Momenten besser zu sein - in beiden Strafräumen, offensiv und defensiv“, sagte Kane später und ließ sich somit selbst nicht aus der Kritik aus.
Das Führungstor im Viertelfinal-Rückspiel, als er Federico Dimarco mit einer einfachen Ballmitnahme zum Ausfallschritt zwang und in Manier eines Weltklasse-Stürmers durch dessen Beine unhaltbar für Yann Sommer abschloss, ließ die Bayern-Fans erwachen. Darüber hinaus aber enttäuschte Kane in den beiden Spielen gegen die Nerazzurri.
Kane wirkt nicht mehr frisch
Der Engländer ließ seine Spritzigkeit vermissen, spielte teils eklatante Fehlpässe in den Fuß des Gegners, kreierte selbst weniger Chancen als üblich – und vergab im Hinspiel durch einen Pfostentreffer die größte Chance der gesamten 180 Minuten. Man konnte den Eindruck gewinnen, die Müdigkeit hätte Kane im Griff.
Immerhin ist der Engländer nach Joshua Kimmich und Minjae Kim der Bayern-Spieler mit den meisten Pflichtspiel-Minuten der gesamten Saison: 3.312 in 42 Partien, das bedeutet durchschnittlich 79 Minuten pro Spiel.
Die einzige Pause, die Kane hatte, war im Dezember, als er wegen eines Muskelfaserrisses für zwei Wochen ausfiel. Sonst gewährte ihm Trainer Vincent Kompany nicht ein einziges Spiel Pause – und das seit August.
„Was Harry angeht, glaube ich nicht, dass er Müdigkeit spürt“, sagte Kompany am Freitagvormittag auf SPORT1-Nachfrage.
„Wenn einer voll motiviert ist, ist es Harry Kane“
Fakt ist: Hinter Kane fehlt dem Rekordmeister eine nominelle Nummer neun. Mathys Tel ist an Tottenham Hotspur verliehen. Thomas Müller scheint auf seinen letzten Bayern-Metern eher die Rolle des Zehners einzunehmen – und auch Serge Gnabry, der sich gerade in ein Formhoch spielt, ist eher für die Außenbahn eingeplant.
So bleibt auch im bayerischen Offensiv-Konstrukt vorerst die Enttäuschung, allen voran bei Kane.
„Es gibt unterschiedliche Wege, wie man das erste Gefühl nach so einem Spiel bearbeiten kann. Aber am nächsten Tag, glaube ich, weiß er, wie wichtig die nächsten Wochen sind und wie schön diese auch für ihn werden. Wenn einer voll motiviert ist, ist es Harry Kane“, beschrieb Kompany - und schob noch schnell hinterher: „Sie wissen selber, warum.“
Weil spätestens am 17. Mai, beim Auswärtsspiel gegen die TSG Hoffenheim, feststehen könnte, dass der FC Bayern Deutscher Meister ist, die Schale nach einem Jahr Pause wieder in die Luft recken darf - und Kane seinen ersten großen Titel einfährt.
Vielleicht dient dieser ja als Sekundenkleber für das in Mailand zerbrochene Innenleben. Getreu dem Vorsatz: Nicht ganz heile, aber bestmöglich repariert.