Von Träumen war beim FC Bayern in der vergangenen Zeit öfter gesprochen worden. Vom Traum des „Finale dahoam“, Klub-Patron Uli Hoeneß wurde gar noch pathetischer und malte das Bild von Thomas Müller als entscheidendem Final-Torschützen. Und dann wurde am Mittwochabend das ohrenbetäubend laute San Siro zum unangenehmen Weckerklingeln. Herausgerissen aus dem Schlummern, hinein in die bittere Realität.
Bayern-Fehler in der Kaderplanung?
„Wir haben in dieser Saison einfach zu viele Niederlagen kassiert. Am Ende scheidest du dann aus“, versuchte Joshua Kimmich noch in der Mailänder Mixed Zone das Königsklassen-Aus zu erklären - und ließ mit einer ersten fachlichen Analyse tief blicken: „Gerade in den großen Spielen müssen wir uns deutlich verbessern, was die Effizienz und die Anfälligkeit angeht.“
Bayern-Dilemma: Zwei Standards, zwei Gegentore
Anfälligkeit ist das Stichwort. Zwei frühe Gelbe Karten für das Innenverteidiger-Duo, das je gegen Marcus Thuram rüde enstieg. Übrigens: Eric Dier 30 Meter vor dem gegnerischen Tor, Minjae Kim auf der rechten Abwehrseite im Halbfeld. Beide jedoch fernab von akutem Gegentor-Risiko. Dazu: zwei Standards, zwei Gegentore.
Die Treffer fielen, weil Kim einmal gar nicht in das Kopfball-Duell kam und Kimmich das „Tippkick-Duell“ gegen Lautaro Martinez verlor, wie es Max Eberl beschrieb - und vor dem 1:2 zog dann der bayerische Südkoreaner auch noch den Kürzeren im Kopfballduell gegen Benjamin Pavard. Ausgerechnet gegen einen defensiv hochklassigen und flexibel einsetzbaren Ex-Bayer, den man ziehen ließ.
Kim, der noch zu seiner neapolitanischen Zeit zum besten Verteidiger der Serie A auserkoren wurde, stand stellvertretend auf dem defensiven Präsentiertablett, das die Schwächen offenbarte. Und das übrigens nicht zum ersten Mal: Schon in der vergangenen Saison ließ sich Kim im Aufeinandertreffen mit Real Madrid übermütig von Toni Kroos' Handbewegungen aus der Kette herauslocken, hatte so allemal eine Teilschuld am Ausscheiden aus der Königsklasse.
Dass Trainer Vincent Kompany den 28-Jährigen nun ausgerechnet gegen Dortmund und im Rückspiel gegen Inter Mailand zeitnah nach seinen Fehlleistungen vom Platz nahm, sprach nicht zwingend für seinen interimistischen Abwehrchef.
Kompany weicht Fragen zu Kim aus
Schon vor der Partie hatte Kompany gesagt: „Wir haben zurzeit nicht den Luxus, Spieler vom Kollektiv zu isolieren.“ Sprich: Wenn es die Kadertiefe zuließe, gäbe es den Gedanken, Kim mal auf die Bank zu verfrachten.
Auch die Aussagen auf der Pressekonferenz direkt nach dem Ausscheiden ließen tief blicken: „Es gibt keine Chance, dass ich mich gegen jemanden wende oder diese Diskussion mitführe. Aber, wenn wir interne Diskussion in unserer Familie, in unserer Blase haben, sagen wir alles, was gesagt werden muss. Das ist der einzige Weg, um weiterzukommen.“
Am Karfreitag versicherte der Belgier: „Wenn jemand eine schlechte Leistung zeigt, sprechen wir das immer an - in der Gruppe oder individuell.“ Er selbst beschäftige sich nicht „mit Hype und Drama“, aber klar sei auch: „Am Ende der Saison müssen wir ehrliche Gespräche mit jedem Spieler führen.“
Für den Fortgang bedarf es hinter verschlossenen Türen also einer Analyse: Lässt sich das Aus in der Runde der besten Acht noch mit dem Verletzungspech rechtfertigen oder liegen die Defizite doch tiefergehend in der Kaderplanung?
Bittere Ausfälle von Upamecano und Davies
Dass Kim die Kontrolle in der defensiven Zentrale übernehmen musste, hat mit den Verletzungssorgen zu tun, zweifelsohne.
Dayot Upamecano, der längst nicht fehlerfrei agierte und trotzdem auch in Einzelspielen zu Weltklasse-Leistungen imstande war, fehlt dem FC Bayern in der entscheidenden Saisonphase aufgrund eines Knorpelschadens im Knie, Alphonso Davies als linker Außenverteidiger mit einem Kreuzbandriss. Und auch Hiroki Ito, der als Linksfuß sowohl außen als auch innen spielen kann, muss mit einem Mittelfußbruch zuschauen.
Dass die Hälfte der Stamm-Viererkette vor den richtungsweisenden Königsklassen-Wochen wegbrach, mag sicherlich als bitter zu verbuchen sein. So musste im Rückspiel gegen Inter Mailand ein gelernter Rechtsverteidiger in persona von Josip Stanisic auf links aushelfen, Konrad Laimer als gelernter Sechser auf der anderen Seite.
Und ob die Zentrale mit Kim, der im San Siro die SPORT1-Note 5,5 erhielt, und Eric Dier das Niveau hat, um den Europapokal in die Höhe recken zu können, darf mit Verlaub bezweifelt werden.
Was eklatant auffiel: Es fehlte ein Abwehr-Boss, der seinen Verbund vor Torwart-Jüngling Jonas Urbig (erst vier CL-Spiele!) ordnet, der lautstark vorangeht, schlicht für Sicherheit sorgt. „Die Qualität und die Qualitätsbreite ist absolut vorhanden“, versuchte sich Thomas Müller zwar nach Mitternacht noch in milden Tönen, musste jedoch auch eingestehen: „Jedes Team hat seine Stärken und Schwächen.“
Eigene Stabilität vernachlässigt?
Was sollte sich aus bayerischer Sicht sich nun also verändern? „Wir müssen uns deutlich verbessern und Wege finden, besser zu verteidigen, damit wir den Aufwand in Zählbares ummünzen“, analysierte Kimmich nach Abpfiff sportlich nüchtern. Harry Kane rief eindringlich dazu auf, sich „das noch einmal anzuschauen“, und auch der Trainer Vincent Kompany gestand offen: „Wir müssen das natürlich besser machen, gerade in solchen Spielen.“
Soweit die sportliche Analyse, doch ebenjene wird auch über das Geschehen auf dem Rasen hinausgehen. Hat die Führungsetage um Sportvorstand Max Eberl in der Kaderplanung auf Kosten der millionenschweren Offensive die eigene Stabilität vernachlässigt?
Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Immerhin wurden mit Sacha Boey und Joao Palhinha über 80 Millionen Euro ausgegeben - das Duo hatte allerdings in der entscheidenden Champions-League-Phase keine sportliche Relevanz.
Josip Stanisic funktionierte nach bewussten Systemumstellungen sowohl gegen Dortmund als auch gegen die Nerazzurri in der Innenverteidigung je besser als als „Linksaushilfe“. Und Kim rechtfertigte seine Transferablöse von 50 Millionen Euro mit teils schläfrigen Leistungen auch maximal zeitweise.
Womit wir übrigens wieder beim Träumen wären. Aus Traum mach' jetzt Trübheit, Tristesse - und Transferdruck!