Es war genau 22.52 Uhr, als das San Siro in Mailand förmlich explodierte. Inter Mailand lag im Halbfinal-Rückspiel der Champions League gegen den FC Barcelona mit 2:3 in Rückstand. Um sich in die Verlängerung zu retten, war ein weiterer Treffer der Gastgeber unerlässlich. Und dieser fiel.
Müllers rotes Tuch schlägt wieder zu
In der dritten Minute der Nachspielzeit, Inter hatte die Abwehrreihe ob der prekären Situation längst aufgelöst, war Abwehrchef Francesco Acerbi in Mittelstürmerposition zugange. Denzel Dumfries setzte sich am Strafraumeck gegen Gerard Martin durch und spielte einen flachen Pass in die Mitte. Dort schob Acerbi auf Höhe des ersten Pfostens die Kugel mit dem rechten Fuß ins kurze Eck.
In seinem 66. Europapokalspiel feierte der Italiener seinen ersten Treffer. Einen besseren Zeitpunkt hätte es wohl kaum geben können. Spieler, Verantwortliche und Fans feierten in der Folge ekstatisch, beim 4:3 in der Verlängerung brachen schließlich alle Dämme.
Der 37 Jahre alte Acerbi - nach dem Viertelfinal-Triumph über Bayern durch seinen Zoff mit Thomas Müller im Blickpunkt - steht zum ersten Mal im Finale der Königsklasse und kann sich am 31. Mai in München zum Champions-League-Sieger krönen. Dass Acerbi noch derartige Erfolge würde verzeichnen können, war vor gut zehn Jahren mitnichten abzusehen.
Krebsdiagnose veränderte sein Leben
2013, als er noch relativ am Anfang seiner Karriere stand, wurde bei dem Defensivspezialisten im Rahmen einer Untersuchung bei seinem damaligen Verein Sassuolo ein Tumor entdeckt. Schockdiagnose Hodenkrebs.
Zwar wurde der Tumor im Rahmen einer Operation entfernt, doch nur wenig später kehrte er zurück. Für Acerbi folgte eine monatelange Chemotherapie. Die für Sportler notwendige Disziplin ließ er in jener Zeit aber gänzlich vermissen.
Er feierte immer wieder die Nächte durch, nahm kaum Nahrung zu sich und verlor mehr und mehr die Kontrolle über sein eigenes Leben. „Manchmal aß ich gar nichts und ich schlief auch nicht“, wird er von der Zeit zitiert.
Schwierig zudem: während der Behandlung wurde dem Verteidiger zum Zwecke eines besseren Genesungsprozesses ein bestimmtes Hormon verabreicht. Acerbi versäumte es aber, dieses bei einer Dopingkontrolle anzugeben, es folgte eine kurzzeitige Sperre.
Dass es der Sportler aus seinem Sumpf herausschaffte, verdankt er eigenen Angaben zufolge zwei besonderen Begebenheiten. So wachte der Italiener einst nachts erschrocken auf: „Plötzlich dachte ich an all die Sorgen, die ich meinen Eltern bereitet hatte, an all die verpassten Gelegenheiten und die durchzechten Nächte. An diesem Morgen hatte ich Angst vor meinem eigenen Schatten.“
Besonderer Traum als Rettung
Nach dem Aufsuchen eines Therapeuten folgte der alles entscheidende Durchbruch schließlich an einem Sonntagnachmittag, als sich Acerbi für ein kurzes Nickerchen hingelegt hatte - und das eigentlich, um für eine anschließende Party Kraft zu tanken.
„Ich hatte einen seltsamen Traum. Es war, als wären mein Vater und Gott ein und dieselbe Person, die mich zur Besserung drängte. Ich weinte und erkannte, dass der Krebs eine Chance war. Ich hatte wieder etwas, gegen das ich kämpfen konnte“, so der Italiener.
Seinen Vater Roberto hatte Acerbi bereits 2012 nach mehreren Schlaganfällen verloren. Umso mehr bedeutete ihm dann besagter Traum. Später erklärte Acerbi, er hatte eigentlich darüber nachgedacht, seine Fußballkarriere zu beenden. Aus seiner Sicht hat seine Krebserkrankung ihm das Leben gerettet: „Dafür danke ich Gott.“
EM-Titel - aber auch Rassismus-Vorwürfe
Seine zweite Chance wusste er in der Folge zu nutzen. Er änderte seinen Lebensstil und widmete sein Leben wieder voll dem Profisport. 2018 wechselte er zu Lazio Rom und stieg zu einem der Top-Verteidiger in der Serie A auf.
Auch für die Nationalmannschaft wurde er nominiert, mit der er 2021 den EM-Titel gewann. Der bislang größte Erfolg in seiner Karriere.
Nun, mit 37 Jahren, greift Acerbi nach dem Champions-League-Titel. Eine beeindruckende Reise, die aber nicht ohne weitere Negativ-Schlagzeilen vonstatten ging. Im März des vergangenen Jahres sah er sich schweren Rassismus-Vorwürfen ausgesetzt.
Im Spiel gegen Neapel soll Acerbi den Brasilianer Juan Jesus rassistisch beleidigt haben. Acerbi wies die Vorwürfe zurück, es steht Aussage gegen Aussage, aus dem Kader der Nationalelf wurde er infolge der Anschuldigungen gestrichen.
Jubel-Kontroverse um Thomas Müller
Auch die Bayern, speziell Thomas Müller, brachte Acerbi jüngst gegen sich auf. Nach dem knappen Ausscheiden der Münchner im Viertelfinale verhöhnte der Italiener das frustrierte Münchner Urgestein nach dessen wohl letztem Champions-League-Spiel beim Schlussjubel. Müller war in der Folge derart aufgebracht, dass der leitende Schiedsrichter und zwei weitere Inter-Profis ihn beruhigen mussten.
Auch im Halbfinal-Rückspiel war Acerbi Teil einer kontroversen Szene. Nach dem 2:0 der Italiener ließ er sich – wieder einmal – zu einem provokanten Jubel hinreißen. Sein Gegenüber, Barca-Verteidiger Inigo Martínez, reagierte, so suggeriert es ein Clip aus den Sozialen Netzwerken, mit einer Spuck-Attacke.
Nach dem 4:3 in der Nachspielzeit und dem Einzug in das Finale der Königsklasse dürfte Acerbi das allerdings kaum mehr interessieren.