Der Ball liegt rund 20 Meter vom gegnerischen Tor entfernt, leicht rechts versetzt. Freistoß für Leverkusen, natürlich steht Alejandro Grimaldo parat. An einem Abend in Kopenhagen, an dem Bayer wenig bis gar nichts gelang, lag es am Spanier mit dem begnadeten linken Fuß, zu zeigen, was er am besten kann. Zu retten, was noch zu retten war. Und irgendwie war es so offensichtlich, was folgte.
Bayer gefährlich abhängig: Dieser Geniestreich ist eine Warnung
Bayer ist gefährlich abhängig
Grimaldo nahm drei Schritte Anlauf und erwischte die Kugel wieder einmal perfekt. Die Rotation des Balles in der Luft, die Geschwindigkeit des Schusses und die unfassbare Präzision – es stimmte einfach alles. Dominik Kotarski, Torhüter der Dänen, streckte und reckte sich, flog aber vergeblich ins rechte Eck. Als wäre es das Leichteste auf diesem Planeten, schlug das Leder maßgenau im Kreuzeck ein.
Grimaldo rettet schwaches Bayer: „Einfach weltklasse“
Der nächste magische Moment, durch den es nach etwas mehr als 80 Minuten wie aus dem Nichts 1:1 stand. „Das ist einfach weltklasse. Es ist verrückt, was da gerade passiert. Er war genervt, als er den ersten Freistoß (in der ersten Halbzeit; Anm. d. Red.) verschossen hat. Er hat eine unglaubliche Klasse bei Freistößen. Pure Weltklasse“, schwärmte Neu-Trainer Kasper Hjulmand. Kapitän Robert Andrich fügte staunend hinzu: „Er verwandelt aktuell einen Freistoß nach dem anderen. Das ist eine Eigenschaft, die in Europa sehr selten ist.“
Sehr, sehr selten, wenn nicht sogar einzigartig, wie ein anderer Protagonist behauptete. Jacob Neestrup, der Coach des Gegners. „Ich habe zu meinen Assistenten gesagt: ,Wenn wir drei Freistöße aus dieser Distanz zulassen, geht einer rein.‘ Wenn man die letzten sieben Tage sieht, dann ist Grimaldo nicht nur in den Top-10 auf der Welt, er ist aktuell der Beste“, legte sich Neestrup fest. Entschieden widersprechen würden ihm momentan wohl die wenigsten.
Grimaldo? „Sein linker Fuß ist ein Witz“
Für Grimaldo war es seit seiner Ankunft in Leverkusen der sechste direkt verwandelte Freistoß. Auffällig dabei ist vor allem seine jüngste Ausbeute: Am vergangenen Freitag beim 3:1 gegen Eintracht Frankfurt versenkte er gleich zwei in einem Spiel, nun kam Nummer drei hinzu: Ergibt drei Volltreffer innerhalb von sieben Tagen. „Das ist wie ein Elfmeter für ihn aus dieser Position“, staunte Torjäger Patrik Schick, der ebenso einer von vielen ist, die den Mann aus Valencia für seine Schusstechnik bewundern.
„Sein linker Fuß ist ein Witz“, scherzte Jeremie Frimpong kürzlich über seinen Ex-Kollegen und bezeichnete ihn als „Freistoß-Monster“. Und Bayer-Geschäftsführer Simon Rolfes, der auf eine jahrzehntelange Erfahrung im Profi-Fußball zurückblicken kann, stellte fest: „In dieser Kategorie ist er der Beste“ – was einiges heißt. Immerhin stand Rolfes am Ende seiner aktiven Karriere mit einem gewissen Hakan Calhanoglu zusammen auf dem Platz. Der Türke schoss für die Werkself einst zehn Freistoßtore.
Bis zu dieser Marke ist es für Grimaldo noch ein Stück, unerreichbar wirkt diese aber längst nicht. „Inzwischen habe ich bei der Ausübung eine gewisse Routine und Erfahrung, ich arbeite seit über 15 Jahren täglich an der Technik“, verriet der Spanier schon, als er 2023 in die Bundesliga wechselte. „Abgeschaut habe ich mir die Technik und Ausführung vor allem bei Gareth Bale, Cristiano Ronaldo und Juninho.“ Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass Grimaldos Geniestreiche in Leverkusen gerade einiges kaschieren und deshalb am Donnerstag nur begrenzt Freude aufkam.
Fortschritt gegen Frankfurt, Rückschritt in Kopenhagen
Denn der Ausgleich von Grimaldo, der den Vizemeister scheinbar vor einer Niederlage bewahrte, hielt nur kurz. In einer äußerst turbulenten Schlussphase trafen die Dänen fünf Minuten später erneut, ehe der spät eingewechselte Claudio Echeverri in der Nachspielzeit ein Eigentor von Kopenhagens Pantelis Hatzidiakos zum 2:2-Endstand provozierte. Die bessere Mannschaft war Bayer aber nicht. Fast alles, was das Team gegen Frankfurt zeigte, ließ es vermissen.
Zu passiv, zu schläfrig, zu uninspiriert und schlichtweg zu ungefährlich agierte die Werkself bei der Rückkehr ihres Trainers an dessen alte Wirkungsstätte über weite Strecken. Kopenhagen, auf dem Papier der klare Außenseiter, wirkte giftiger und insgesamt viel gefestigter, schien lange näher am zweiten eigenen Tor als am ersten Gegentreffer. Darauf, dass Bayer einen Punkt aus Dänemark mitnahm, deutete zuerst wenig hin. Hjulmands Zettel mit positiven Anmerkungen des Abends dürfte entsprechend kurz ausfallen.
Mehr denn je scheint die Mannschaft in der Offensive von den Aktionen und Kunstschüssen des Schienenspielers abhängig zu sein. Bereits zum Ligastart zählte Grimaldo bei den enttäuschenden Auftritten gegen Hoffenheim (1:2) und Bremen (3:3) zu den besseren Spielern. Beim überzeugenden Sieg gegen Frankfurt (3:1) fungierte er mit seinem ersten Freistoß dann als Dosenöffner, ein Tor schoss Bayer gegen die Eintracht aus dem Spiel heraus nicht. Der Gastauftritt in Kopenhagen war nun wieder ein deutlicher Rückschritt, was die Gesamtleistung betraf.
„Das ist kein gutes Zeichen für uns“
Aber: Egal, was passiert, zumindest auf Grimaldo ist in diesen Tagen Verlass. Und das nicht alleine wegen seines Zauberfußes. Der Mann, der in letzter Zeit selbst immer wieder mit einem Wechsel liebäugelte, ist einer der wenigen aus der Meistermannschaft, die noch da sind. Dazu kommt: In Abwesenheit von Lukas Hradecky, Jonathan Tah und Granit Xhaka übernimmt er immer mehr Verantwortung und blüht in seiner neuen Rolle als Leader regelrecht auf. Beim nächsten Spiel gegen Gladbach (So., ab 17:30 Uhr im LIVETICKER) dürfte er wegen Andrichs Sperre erstmals als Kapitän auflaufen.
Ob Grimaldo gar eine Art Lebensversicherung sei? „Im Moment ja“, antwortete Mark Flekken auf eine Nachfrage. Sonderlich glücklich stimme ihn das allerdings nicht. „Was soll man sagen: Er hat einen tollen Fuß, das hat er wieder gezeigt. Aber die Tatsache, dass wir solche Momente brauchen, ist kein gutes Zeichen für uns“, so der Torhüter, wohlwissend, dass ein einzelner funktionierender Spieler auf Dauer nicht reicht. So ist klar: Noch steckt der Neuanfang unter Hjulmand in den Kinderschuhen.