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EM 2000: Tiefpunkt der über 100-jährigen DFB-Geschichte

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Ein krachendes Ende mit Ansage

Bei der EM 2000 erlebte der deutsche Fußball den Tiefpunkt seiner über 100-jährigen Verbandsgeschichte. Dem Scheitern ging sogar ein Putschversuch voraus.
Das Portugal-Spiel 2000 in Rotterdam markierte den Abgang von Erich Ribbeck
Das Portugal-Spiel 2000 in Rotterdam markierte den Abgang von Erich Ribbeck
© IMAGO/Pressefoto Baumann
Bei der EM 2000 erlebte der deutsche Fußball den Tiefpunkt seiner über 100-jährigen Verbandsgeschichte. Dem Scheitern ging sogar ein Putschversuch voraus.

Die Europameisterschaft 2000 in Belgien und den Niederlanden zählt zu den besten aller Zeiten. Sie wurde von glanzvollem Fußball, packenden Spielen vor vollen Rängen, neuen Stars am Himmel und einigen Überraschungen geprägt.

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Fast alle, die dabei waren, schauen gern zurück auf die drei Wochen in unseren Nachbarländern. Nur die Deutschen nicht. Für sie markierte dieses Turnier den sportlichen Tiefpunkt der DFB-Historie, verbunden mit dem kläglichen Aus nach der Vorrunde und der kürzesten Amtszeit eines Bundestrainers. Der Schlusspunkt für Erich Ribbeck wurde am Freitag vor 25 Jahren in Rotterdam gesetzt.

Die EM hatte noch gar nicht begonnen, da wusste Lothar Matthäus schon, dass sie kein gutes Ende nehmen würde. Nicht für Titelverteidiger Deutschland, dessen Libero er mit seinen 39 Jahren war, obwohl er bereits bei den New York/New Jersey Metro Stars kickte. Aber der seit Oktober 1998 amtierende Bundestrainer Ribbeck klammerte sich in Zeiten fehlender Persönlichkeiten geradezu an den Rekordnationalspieler.

Putschversuch gegen Ribbeck - Matthäus sollte übernehmen

Ausgerechnet an Matthäus aber wandten sich im Trainingslager auf Mallorca kurz vor dem Turnier Rebellen aus dem Kader mit der Aufforderung, gegen Ribbeck zu putschen. Am 26. Juni 2000, eine Woche nach der EM, gestand Matthäus im Fachblatt Kicker Ungeheuerliches: „Dietmar Hamann, Jens Jeremies und auch Markus Babbel und diverse andere bestürmten mich: Ribbeck muss noch vor der EM weg. Übernimm Du seinen Posten und trainiere uns bei der Europameisterschaft.“

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Auslöser war eine misslungene Abwehrvariante im Training, mit der Ribbeck sie überfordert hatte. Matthäus lehnte empört ab. Ein ungeheuerlicher Vorgang blieb es doch. Der deutsche Fußball zur Jahrtausendwende – nie war er tiefer gesunken, nie das Ansehen der Nationalmannschaft, die 1996 noch den EM-Pokal aus Wembley mitgebracht hatte, schlechter.

Matthäus, dessen grandiose Karriere mit 150 Länderspielen ausgerechnet auf dem Tiefpunkt endete, sagte im Rückblick, dass er die EM-Spiele 2000 „am liebsten aus meiner Karriere streichen würde.“ Die EM sei sein „negativstes Turnier von allen“ gewesen – und er hatte immerhin acht gespielt. Oft kamen sie mit Teamgeist weiter als es die fußballerischen Fähigkeiten erwarten ließen, diesmal aber war alles anders. Noch 2020 sagte Matthäus: „Es gab Grüppchenbildung und Eifersüchteleien, jeder hat in erster Linie nur an sich gedacht.“

Inwieweit das an Erich Ribbeck lag, ist schwer zu sagen. Der „Sir“, der mehr durch sein gepflegtes Äußeres bestach als durch Taktikwissen, hatte schon als Vereinstrainer öffentliche Angriffe von Spielern wie Jan Wouters (Bayern München) oder Christian Wörns (Leverkusen) ertragen müssen und war der erste Trainer in der Bayern-Geschichte seit Bundesligagründung, der länger als eine Saison in München wirkte, ohne etwas zu gewinnen. Immerhin holte er 1988 mit Bayer Leverkusen den Uefa-Pokal.

Beförderung mit 14 Jahren Verspätung

Zuvor war er bereits Co-Trainer der Nationalmannschaft, doch nach Jupp Derwalls Rauswurf 1984 rückte er nicht wie erhofft nach, der DFB nahm lieber Franz Beckenbauer. Ribbeck ging im Groll. Im Herbst 1998, so schien es, trug der Verband seine Schuld ihm gegenüber ab und setzte ihn, nunmehr 61, als Nachfolger des zurückgetretenen Berti Vogts ein.

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Der 17 Jahre jüngere Uli Stielike wurde ihm zur Seite gestellt, für die Trainingsarbeit. Den erwünschten Umschwung in schwierigen Zeiten, als den Deutschen die Talente ausgingen, schafften sie nicht. Die Kette enttäuschender Spiele nach dem peinlichen WM-Aus 1998 (0:3 im Viertelfinale gegen Kroatien) hatte das Selbstverständnis erschüttert.

Franz Beckenbauer sagte im Doppelpass des damaligen DSF (heute SPORT1) auf seine typische Art am Sonntagmorgen nach der mühsamen Qualifikation für die EM im letzten Spiel (0:0 gegen die Türkei): „Wenn ich die WM-Elf von 1990 um Mitternacht wecke, dann gewinnt sie barfuß gegen die heutige Nationalmannschaft.“

Der Kicker ließ Ende 1999 seine Leser abstimmen, ob die DFB-Elf den Titel verteidigen würde. 1835 User nahmen teil, 74,3 Prozent antworteten mit Nein. Die Prognosen verschlechterten sich im Frühjahr 2000 beinahe täglich. Nach erschütternden Länderspielen in Amsterdam (1:2 gegen Niederlande) und Kaiserslautern (1:1 gegen Schweiz) war das Ansehen der Nationalelf am Tiefpunkt.

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Spott aus England und Kritik aus der Mannschaft

Englands „Daily Telegraph“ spottete über „die schlechteste deutsche Mannschaft seit Menschengedenken“ und selbst Nationalspieler Jens Jeremies bezeichnete ihren Zustand als „jämmerlich“. Er führte im Kicker aus: „Es passt nichts zusammen, jeder spielt für sich.“ Die Krise erreichte im Mai ihren nächsten Höhepunkt. Vier Wochen vor dem Turnier ging Stielike öffentlich auf Distanz zu seinem Vorgesetzten und der Nationalmannschaft. Kostprobe: „Wir sind jeden Tag mit negativen Schlagzeilen in den Medien. Wegen unserer Leistungen sind wir daran zum großen Teil aber auch selbst schuld!“

Er wurde am 7. Mai 2000 von seinen Aufgaben entbunden, der EM-Held von 1980, Horst Hrubesch, bis dahin Trainer einer A2-Elf des DFB, rückte nach. Doch Tore schießen mussten andere, und daran haperte es gewaltig.

Das einzige fiel beim Auftakt, wenige Tage nach dem gescheiterten Putsch gegen Ribbeck, gegen Rumänen (1:1) durch Mehmet Scholl. Der forderte nach Abpfiff eine Krisensitzung: „Über dieses Spiel muss geredet werden. Wenn wir gegen England und Portugal diese krassen Fehler nicht abstellen, dann sehe ich schwarz.“

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Ribbeck erkannte, dass die von Matthäus im längst überholten Libero-Style geführte Abwehr gewaltig wackelte: „Die Chancen des Gegners haben wir selber eingeleitet.“ Die alten Weltmeister konnten das Ruder nicht herum reißen. Matthäus und der kurz vor der EM reaktivierte Thomas Häßler mussten ausgewechselt werden.

„Der schlimme alte Feind. Deutschlands Mittdreißiger sahen aus, als wären sie in der Midlifecrisis“, spottete The Sun, ehe sie sich der eigenen englischen Mannschaft zuwenden musste. Die hatte nämlich gegen Portugal verloren (3:2), und so trafen sich die Rivalen von einst in Charleroi schon zu einem Schicksalsspiel.

Selbst Kleeblätter brachten der DFB-Elf kein Glück

Die Bild druckte am 17. Juni drei Kleeblätter pro Ausgabe in den Nationalfarben, zum Ausschneiden und An-den-Fernseher-kleben. Motto: „Ihr müsst kämpfen, wir sorgen für das Glück.“ Ein netter, untauglicher Versuch. Das belgische Städtchen Charleroi sah übrigens schon vor der Partie eine Schlacht – die schlimmste des Turniers. Wieder mal randalierten englische Hooligans. Hinterher durften sie auch noch einen Sieg bejubeln, Alan Shearer köpfte nach Babbels Stellungsfehler das Tor des Tages.

Ribbeck klagte: „Das war eine unverdiente Niederlage, die weh tut. Mit großer Wahrscheinlichkeit sind wir jetzt draußen.“ Für diesen Fall hatte er seinen Rücktritt angekündigt, ohnehin endete sein Vertrag am 31. Juli 2000. In den Medien hatte die Nachfolge-Diskussion längst begonnen.

Am Tag vor dem Spiel der letzten Hoffnung gegen die Portugiesen sah man plötzlich Leverkusens Trainer Christoph Daum ins DFB-Quartier spazieren, er hatte ein Gespräch mit Vize-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder. Das Thema konnte man sich denken, schnell sickerte ein „Geheimplan“ durch: „Er soll ein Jahr lang Leverkusen und die Nationalmannschaft trainieren“, enthüllte die BZ. Für deren Kolumnist Franz Beckenbauer war Daum „der Richtige.“ Er sollte frischen Wind in diese Mannschaft bringen, in der noch zu viel Gestern lebte.

„Wenn Lothar Libero spielen muss wie Worldcup Willi Schulz anno 1966, sehen wir uralt aus“, analysierte Paul Breitner in der Bild am Sonntag. Für ihn war der deutsche EM-Traum schon vorbei: „Vergessen Sie die Möglichkeit, dass die Engländer gegen die Rumänen verlieren und Deutschland am Dienstag gegen Portugal gewinnt. Die Engländer werden die Rumänen niederwalzen.“ So kam es nicht, sie verloren 2:3 – aber es war auch egal.

Denn niedergewalzt wurde am 20. Juni 2000 nur die deutsche Mannschaft. Als gegen 22.30 Uhr in Rotterdam Bilanz gezogen wurde, war der nächste Tiefpunkt erreicht. Im Stadion de Kuip wurde der deutsche „Rumpelfußball“ (Zitat Beckenbauer) endgültig beerdigt. Gegen eine portugiesische B-Elf (mit neun Reservisten) unterlag der Titelverteidiger blamabel mit 0:3. Seltsam war, dass sich die „Rebellen“ Ziege, Babbel und Jeremies kurzfristig abgemeldet hatten, aber unverzichtbar war ohnehin keiner in diesem Kader außer vielleicht Oliver Kahn.

Presseschelte: „Ihr seid eine Schande“

Bei den Portugiesen machte ein Reservist von Lazio Rom, Sergio Conceicao, auf sich aufmerksam. Er erzielte alle drei Tore (35., 54., 71.) und sorgte für das noch immer schlechteste deutsche Abschneiden bei einem Turnier. 1:5 Tore, ein Punkt, Letzter, raus. Auf der Bank sah man Horst Hrubesch weinen. „Unsere Kinder haben keine Vorbilder mehr“, klagte die BZ, die Bild titelte: „Ihr seid eine Schande und die Fußball-Deppen der Nation.“ Innenminister Otto Schily saß auf der Tribüne und ätzte: „Leider gibt es noch kein Gesetz, das solche Spiele verbietet.“

Das Debakel wurde zu allem Übel bis morgens um sechs kräftig begossen. Paparazzi lichteten das Frustsaufen der Nationalspieler auf der Terrasse ab, die Bilder steigerten nur die Wut auf die Jung-Millionäre. „Da saufen sie, die traurigen Brüder. Die haben überhaupt keinen Stolz mehr“, klagte Torwarttrainer Sepp Maier.

Erich Ribbeck trat wenige Stunden später zurück, stilvoll und selbstkritisch: „Das ist zum einen die Konsequenz aus dem katastrophalen Abschneiden der Mannschaft, für das ich die volle Verantwortung übernehme. Ich habe es nicht geschafft, aus den besten deutschen Fußballern eine richtige Mischung zu finden.“ Bis zuletzt blieb er „Sir“.

Seine Amtszeit war die kürzeste von allen (21 Monate) und enthielt die wenigsten Spiele (24), sein Punkteschnitt (1,5) ist der niedrigste aller zwölf Bundestrainer in 117 Jahren Länderspielgeschichte. 25 Jahre ist Ribbecks Rücktritt nun her. Ein Jubiläum, das kein Grund zum Feiern ist. Anlässlich der gerade wieder etwas gedrückteren Stimmung aber zumindest daran erinnert, dass alles schon mal viel schlimmer war.