„Danke an alle, die mich abgeschrieben haben. Ich bin euch dankbar.“ Das sagte Englands Nationalspielerin Chloe Kelly in gewohnt frecher Manier, kurz nachdem sie den zweiten Europameister-Titel in Folge für ihr Land perfekt gemacht hatte.
Frauen-EM: "Sie war schon immer so"
„Sie war schon immer so“
Dabei war vor nicht allzu langer Zeit noch völlig unklar gewesen, ob die 27-Jährige nach einer schwierigen Saison überhaupt in der Schweiz dabei sein würde.
Dass sie letztendlich sogar zu jener EM-Spielerin werden würde, die den Turnierverlauf mehrmals entscheidend verändert und Superstars wie Spaniens Alexia Putellas und Aitana Bonmatí in den Schatten stellt, galt vor wenigen Wochen noch als unvorstellbar.
Frauen-EM: Kelly schlägt erneut als Joker zu
Ihr finales Meisterstück lieferte Kelly schließlich im Endspiel ab, nachdem sie aufgrund einer Verletzung von Lauren James bereits vor Ende der ersten Hälfte ins Spiel gekommen war.
Zu diesem Zeitpunkt lag England wieder einmal zurück. Die perfekte Ausgangslage für Kelly, die in jedem K.o.-Spiel bei einem Rückstand eingewechselt worden war - und ihr Team jedes Mal aufs Neue rettete. Entweder verwandelte sie eiskalt Elfmeter oder bereitete mit starken Flanken Tore vor.
Im Finale gelang ihr sogar beides. Erst ermöglichte Kellys Flanke den Ausgleich, dann bekam sie im Elfmeterschießen ihren geliebten großen Auftritt, als sie - wer auch sonst - den entscheidenden fünften Elfmeter schießen durfte.
Entscheidender Elfmeter? „Wusste, dass es klappt“
Die Voraussetzungen, um mit viel Selbstbewusstsein anzutreten, waren eigentlich kaum gegeben. Denn Kelly sah die vielen Fehlschüsse vor sich und wusste auch, dass sie im Halbfinale erst im Nachfassen erfolgreich gewesen war. Zudem hatte sie im Training am Vortag gleich drei Elfer verschossen.
Doch Zweifel kennt Kelly auf dem Spielfeld nicht. Als sie zum Punkt lief, strotzte sie vor Selbstvertrauen, setzte zu ihrem außergewöhnlichen Anlauf an, der viele wohl eher an einen Flamingo erinnert - und jagte den Schuss mit Wucht unter die Latte.
England war erneut Europameister - und die große Heldin hieß wie bei der EM 2022 Chloe Kelly.
Diese verstand nicht einmal, warum sie beim Elfmeter hätte nervös sein sollen: „Ich war ganz cool, Ich habe mich einfach hingestellt, ich wusste, dass es klappt.“
Lehmann begeistert: „Größte Pfund, das du hast“
Ihr Selbstvertrauen spürten auch ihre Mitspielerinnen wie Lauren Hemp, die ebenfalls keinen Zweifel daran hatte, dass Kelly verwandeln würde: „Als Chloe zu diesem fünften Elfmeter antrat, wusste ich, dass er reingehen würde. Und verdammt, das tat er.“
Vor allem Kellys Auftreten faszinierte dabei auch ZDF-Expertin Kathrin Lehmann: „Das größte Pfund, das du hast, hau es raus! Ich bin mir sicher, das (der Schuss, Anm. d. Red.) waren wieder über 100 km/h. (…) Sie ist auch so eine Zockerin, sie braucht diesen Moment. Sie wäre ein bisschen enttäuscht, wenn sie den ersten Elfmeter schießen müsste.“
Denn Kelly will nicht irgendeinen Elfmeter schießen, sie will die finale Entscheidung auf dem Fuß haben, die größtmögliche Show.
Kelly verzichtet diesmal auf größeren Jubel
Auf diese verzichtete sie diesmal allerdings überraschenderweise unmittelbar nach dem Elfmeter.
Nachdem der Ball das Netz berührt hatte, schaute Kelly zwar kurz betont lässig drein, lief dann aber zu den Fans und zeigte lediglich mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung der englischen Kurve.
Für die Engländerin ein zurückzuhaltender Jubel, auch wenn sie selbst mit diesem in Spanien aneckte, da sie zu nahe an deren Torhüterin vorbeigelaufen sei. Für gewöhnlich liebt Kelly es aber, ihre Tore ausgelassen und teils auch provokant zu zelebrieren.
So geschehen beispielsweise im Halbfinale gegen Italien, wo ihr Torjubel im Stile von Cristiano Ronaldo und Thierry Henry Diskussionen darüber auslöste, ob diese Gesten – speziell nach einem im Nachsetzen verwandelten Elfmeter – einfach cool oder doch arrogant waren.
DFB-Schreck polarisiert mit ihrem Charakter
„Chloe ist einfach nur Attitüde, Frechheit und Selbstbewusstsein“, fasste Teamkollegin Lucy Bronze zusammen. Das unterstrich Kelly auch mit einem Kommentar nach dem Halbfinale. Auf die Frage, woher sie das ganze Selbstvertrauen nehme, antwortete sie schlicht: „Aus mir selbst.“
Eine Einstellung, die ihren Mitspielerinnen längst bekannt ist. „Sie war schon immer so. Chloe interessiert nicht, was andere Leute denken. (…) Sie weiß, worin sie brillant ist“, sagte Esme Morgan.
Und brillant ist Kelly vor allem in den Momenten, in denen alle Augen auf ihr liegen. Das hatten auch die DFB-Frauen im EM-Finale 2022 zu spüren bekommen, als die Stürmerin den Siegtreffer erzielte.
Diesmal herrschten allerdings andere Voraussetzungen: Kelly war weder in der Nationalmannschaft noch im Verein unumstritten. Die 27-Jährige durchlebte eine so schwere Saison, dass sie im vergangenen Winter sogar an ein Karriereende dachte.
Nach Streit bei City: Kelly findet Glück in Arsenal
Bei Manchester City kam sie nach Jahren als Stammspielerin in der Hinrunde plötzlich kaum über die Bankrolle hinaus. Ihre Zeit dort endete Anfang des Jahres schließlich mit einer kleinen Schlammschlacht.
„Ich möchte einfach nur wieder glücklich sein“, schrieb sie in einem emotionalen Instagram-Post Ende Januar.
Dieses Glück fand sie beim FC Arsenal, wo sie zur zweiten Saisonhälfte auf Leihbasis hin wechselte und ab der kommenden Saison auch fest unter Vertrag steht.
In ihrer Heimatstadt London holte sich die extrovertierte Spielerin ihr Selbstvertrauen schließlich zurück und feierte mit der Mannschaft sogar überraschend den Champions-League-Titel gegen das Überteam aus Barcelona.
England-Star bedankt sich bei Nationaltrainerin
Der Vereinswechsel war wohl auch entscheidend dafür, dass Englands Nationaltrainerin Sarina Wiegman der Stürmerin doch noch die Chance gab, auf den EM-Zug Richtung Schweiz aufzuspringen.
Entsprechend dankbar zeigte sich Kelly nach dem Finale: „Sie (Wiegman) hat mir Hoffnung gegeben, als ich wahrscheinlich keine mehr hatte.“
Das geschenkte Vertrauen zahlte Kelly im Turnierverlauf mehr als zurück und bewies dabei einmal mehr, dass sie für die großen Momente wie gemacht ist. Auch angetrieben durch diejenigen, die sie bereits abgeschrieben hatten.