Jörg Neblung ist seit Jahrzehnten im Fußballgeschäft tätig. Als Spielerberater betreut er nicht nur bekannte männliche Profis wie Torwart Stefan Ortega von Manchester City, sondern seit vielen Jahren auch Fußballerinnen – lange bevor der Frauenfußball in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Aktuell berät der 57-Jährige mit Klara Bühl, Elisa Senß und Selina Cerci drei deutsche Nationalspielerinnen.
Frauen-EM: "Diese Entwicklung ist in meinen Augen nicht aufzuhalten"
„Wir haben inzwischen die Idole“
Im exklusiven Interview mit SPORT1 spricht Neblung über das EM-Aus der Mannschaft von Bundestrainer Christian Wück in der Schweiz, über das Streitthema Equal Pay – und über starke Persönlichkeiten wie Torhüterin Ann-Kathrin Berger oder Ex-Kapitänin Alexandra Popp, die für viele junge Talente zu Vorbildern geworden sind.
SPORT1: Herr Neblung, Englands Fußballerinnen haben sich im Elfmeterschießen gegen Spanien durchgesetzt und sind Europameisterinnen geworden. Wie fällt Ihr Fazit aus?
Jörg Neblung: Die technisch stärkere Mannschaft schafft es nicht, sich in der regulären Spielzeit plus Verlängerung gegen kämpferisch auftretende Engländerinnen durchzusetzen. Wir hatten ein ähnliches Erlebnis gegen die Französinnen. Am Ende ist Fußball ein Ergebnissport – und diese Titelverteidigung ist daher nicht unverdient für England.
SPORT1: Wie haben Sie das Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft bei der EM in der Schweiz erlebt?
Neblung: Ich war natürlich im Stadion und hatte uns schon im Elfmeterschießen gesehen. Der späte Siegtreffer für die Spanierinnen war wirklich sehr bedauerlich. Ich habe zwei Teams auf Augenhöhe gesehen, wenn auch mit unterschiedlichen Qualitäten.
SPORT1: Bundestrainer Christian Wück sprach davon, dass sein Team „ein richtig gutes Turnier“ gespielt hat. Redet er sich da nicht etwas schön? Was waren aus Ihrer Sicht die Gründe für das Ausscheiden?
Neblung: Wir waren in dem ganzen Turnier nicht von Glück verfolgt. Die Verletzungen und Roten Karten waren schwer zu kompensieren. Ich denke, wir haben Mentalität gezeigt, aber einige Abläufe haben nicht ganz so funktioniert, wie alle gehofft hatten. Ich bin ziemlich sicher, dass das deutsche Team allen gezeigt hat, wie viel Mentalität so eine deutsche Mannschaft hat, die zusammensteht und mit einem guten Geist ins Turnier geht. In der Position, taktische Analysen vorzunehmen, sehe ich mich nicht - einerseits nicht als Fan der deutschen Nationalmannschaft und andererseits als Interessenvertreter einiger Spielerinnen.
Neblung: „Ich habe eine Menge Tränen gesehen“
SPORT1: Wie haben die Nationalspielerinnen, die Sie betreuen, dieses Aus persönlich aufgenommen? Gab es besonders emotionale Reaktionen?
Neblung: Ich habe eine Menge Tränen gesehen, bei allen. Die Enttäuschung war schon sehr groß. Ich glaube, das verarbeitet jede Spielerin auf ihre eigene Art und Weise. Die Familien waren da und haben sichtbar Rückhalt gegeben. Auch auf der Tribüne habe ich eine wirklich gut funktionierende Gemeinschaft bemerkt.
Neblung zollt Berger Respekt
SPORT1: Ann-Katrin Berger hat als Torhüterin in der Endrunde viel Verantwortung getragen. Wie bewerten Sie ihre Leistungen im Turnierverlauf?
Neblung: Sie hat wirklich herausragende Fähigkeiten, liebt das kontrollierte, aber manchmal auch risikoreiche Spiel. In Basel war sie definitiv die Spielerin des Spiels, und für mich wird sie auch die Torhüterin des Turniers sein. Daran ändert auch das unglückliche Gegentor gegen Spanien nichts. Da haben sich die Spanierinnen wirklich gut vorbereitet.
SPORT1: Berger hat in der Vergangenheit auch schwierige persönliche Phasen gemeistert. Wie wichtig sind solche Charakterstärken auf diesem Niveau?
Neblung: Die Torhüter-Position ist speziell – ein Fehler bedeutet fast immer ein Gegentor. Mit diesem Druck muss man umgehen können, deshalb reifen Spielerinnen auf dieser Position auch deutlich später, können dann aber auch noch länger auf professionellem Niveau spielen. Ann-Katrin Berger ist keine Lautsprecherin, aber man merkt, dass die Spielerinnen auf dem Feld zu ihr aufschauen. Und das hat ganz sicher auch mit Lebenserfahrung zu tun.
SPORT1: Es gab durchaus Diskussionen über die Torhüterinnen-Auswahl. War Berger aus Ihrer Sicht zurecht gesetzt, oder hätten andere Spielerinnen eine Chance verdient gehabt?
Neblung: Erst im Laufe der Vorbereitung auf dieses Turnier konnte man erkennen, dass es auf sie herauslaufen muss. Die Qualitäten einer Merle Frohms sind sicherlich herausragend, aber sie stand ja nicht mehr zur Verfügung.
Neblung: „Wir werden von vielen Vereinen mit Argwohn betrachtet“
SPORT1: Sie vertreten seit Jahren Spielerinnen im Frauenfußball. Wie hat sich Ihre Arbeit in den letzten Jahren verändert – gerade mit Blick auf gestiegene Aufmerksamkeit und Professionalisierung?
Neblung: Die Schnelligkeit, mit der sich der Frauenfußball und auch die Qualität auf dem Platz entwickelt, war so nicht unbedingt zu erwarten. Wir sind jetzt schon an einem Punkt, den ich erst zum Ende dieses Jahrzehnts erwartet hätte. Umso schöner sind die Begeisterung in den Stadien und die tollen Einschaltquoten. Diese Entwicklung ist in meinen Augen nicht aufzuhalten.
SPORT1: Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit Vereinen und Verbänden? Gibt es inzwischen mehr Strukturen, die mit dem Männerfußball vergleichbar sind?
Neblung: Das kann ich nicht behaupten. Wir Spielerberater werden immer noch bei vielen Vereinen mit Argwohn betrachtet. Die Mitarbeiterstäbe bei den Frauen sind mit Ausnahme der Top-10-Klubs der Welt nicht annähernd mit denen der Männer zu vergleichen. Eine Scouting-Abteilung in einem Topverein hat bei den Männern zehn bis 20 Mitarbeiter, bei den Frauen sind es tendenziell zwei bis drei. Trotzdem haben Vereine wie Olympique Lyon oder der FC Chelsea inzwischen 30 Festangestellte, die sich nur um die erste Mannschaft kümmern. Das ist schon ein Quantensprung.
Neblung fordert mehr Partizipation der Frauen
SPORT1: Gibt es Unterschiede in der Betreuung und Beratung von Spielerinnen im Vergleich zu Spielern - gerade in Bezug auf Karriereplanung, Medienarbeit oder Verletzungsmanagement?
Neblung: Das ist tatsächlich so. Mal abgesehen von den komplett unterschiedlichen Provisionsdimensionen zwischen Männern und Frauen ist die Erwartungshaltung an einen Berater im Frauenfußball inzwischen gefühlt höher als bei den Männern. Das bezieht sich nicht nur auf die Themen Sponsoring und Vermarktung, sondern generell auf das ganze Thema Kommunikation, Ansprache, Empathie. Außerdem gehört das Zyklus-Management für mich inzwischen zum Pflichtprogramm einer Frauenagentur. Wir versuchen, unsere Serviceleistungen peu à peu zu erhöhen, aber am Ende muss es auch durch Provisionsumsätze gedeckt sein.
SPORT1: Der Frauenfußball hat in den vergangenen Jahren große Schritte gemacht – und steht doch immer wieder in der Kritik, nicht genug wahrgenommen zu werden. Wo sehen Sie aktuell die größten Baustellen?
Neblung: Die Sensibilitäten im Frauenfußball sind sehr hoch – betrachten wir alleine das Thema Equal Pay. Für mich ist das in den Vereinen nicht realisierbar, solange die Zuschauerquoten und Umsätze aus dem Sponsoring nicht halbwegs mit denen der Männer zu vergleichen sind. Anders stellt sich das für mich bei den Summen dar, die die TV-Sender bezahlen müssen. Wenn das Länderspiel gegen Spanien 14 Millionen Einschaltquote bringt, dann müssen die Frauen auch an dieser enormen Quote partizipieren – selbst wenn die Sponsoringerlöse der Werbetreibenden dann immer noch nicht so hoch sind wie bei den Männern.
Frauen-Fußball auf einem guten Weg
SPORT1: Was braucht es, damit deutsche Nationalteams in Zukunft wieder konstanter internationale Erfolge feiern können?
Neblung: Für mich liegt der Schlüssel in der Ausbildung bei den Juniorinnen, der Einführung von Nachwuchsleistungszentren und auch der Etablierung einer Ausbildungsentschädigung, die es bei den Frauen einfach gar nicht gibt. Gut ausbildende kleine Vereine erhalten für ihre Ausbildungszeit im Falle eines Transfers meist nichts. Das kann so nicht funktionieren.
SPORT1: Wie wichtig sind Vorbilder wie Ann-Katrin Berger oder Alexandra Popp für junge Talente – und was kann getan werden, um mehr Mädchen dauerhaft im Fußball zu halten?
Neblung: Wir haben inzwischen die Idole, wir haben die Begeisterung im Stadion und wir haben die TV-Reichweiten. Das Thema ist auf einem guten Weg. Da tun wir gut daran, nicht zu überpacen. Der Deutsche ist generell ja eher ein Nörgler und immer schnell unzufrieden. Wir tun gut daran, auch mal zu sehen, was wir in den vergangenen fünf bis acht Jahren schon erreicht haben.