„Retter der Nation“: Das bedeutet der Nachname von Michelle Agyemang in der Akan-Sprache ihrer ghanaischen Vorfahren. Kein ungewöhnlicher Name in Ghana, dessen Bedeutung sie aktuell aber mit Taten ausfüllt wie kaum jemand sonst. Denn Agyemang rettet tatsächlich ihre Nation - zumindest im Fußball.
Frauen-EM: "Ihr liegt die Welt zu Füßen“
Die „Retterin“ einer Nation
Als englische Nationalspielerin bewahrte sie ihr Team trotz ihrer erst 19 Jahre gleich mehrmals vor dem Aus bei der Frauen-EM. In England ahnte man das früh, denn bereits beim ersten verlorenen Gruppenspiel gegen Frankreich wurde sie nach ihrer Einwechslung als Lichtblick und mögliche Rettung nach dem Fehlstart beschrieben.
Frauen-EM: Agyemang bewahrt England vor Aus
Die Medien sollten recht behalten: Im Viertelfinale gegen Schweden wurde Agyemang beim Stand von 0:2 eingewechselt. Ihr Ausgleich elf Minuten später rettete das Team und ermöglichte erst den Sieg im Elfmeterschießen. Das wiederholte sich im Halbfinale gegen Italien, als sie in der 96. Minute den Ausgleich in wahrlich letzter Sekunde erzielte.
Nun steht der Titelverteidiger England doch im Endspiel – und zu verdanken haben die Lionesses dies vor allem den Einwechselspielerinnen Chloe Kelly und Agyemang. „Ihr liegt die Welt zu Füßen“, stellte auch Halbfinal-Siegtorschützin Kelly bei ITV Sport nach dem Finaleinzug fest.
Denn anders als ihre erfahrene Teamkollegin steht Agyemang gerade am Anfang ihrer Karriere und bestritt gegen Italien erst ihr viertes Länderspiel überhaupt. Effektiver als sie ist dabei kaum jemand. Bei ihrem Debüt im April in der Nations League gegen Belgien dauerte es sogar nur 41 Sekunden, ehe ein brillanter Volleyschuss von Agyemang im Netz zappelte.
„Dieses Tor trug dazu bei, ihren Bekanntheitsgrad zu steigern und ihr einen Platz in Sarina Wiegmans (Nationaltrainerin, Anm. d. Red.) Kader für die EM zu sichern“, erklärte Emily Salley, Journalistin bei der BBC, im Gespräch mit SPORT1. In der Schweiz habe sich Agyemang dann „definitiv einen Ruf als Super-Einwechselspielerin erworben.“
„Was für ein Talent“: Wiegman gerät ins Schwärmen
Das verwundert nach ihren Auftritten bei der EM wohl wenig, die Art ihres kometenhaften Aufstiegs schon eher. Noch vor vier Jahren stand Agyemang als Ballkind am Spielfeldrand und selbst vor einem halben Jahr hatte die Stürmerin kaum jemand für die EM auf dem Zettel.
Zwar genoss sie in der Jugend des FC Arsenal eine hervorragende Ausbildung – Spielzeit erhielt sie dort bei den Profis jedoch kaum, weshalb sie in der vergangenen Saison an Brighton & Hove Albion ausgeliehen wurde. Auch dort kam sie fast nie über die Rolle der Einwechselspielerin hinaus und stand zeitweise sogar nicht einmal im Kader.
Doch obwohl Agyemang in 16 Spielen nur einen Treffer erzielte, sah Wiegman etwas in ihr und nominierte sie für die Nations League.
„Was für ein Talent“, lobte die sehr erfolgreiche Nationaltrainerin dann auch nach dem Finaleinzug und zeigte sich begeistert davon, „dass sie 19 Jahre alt ist und so reif spielt.“
Jubeln ist England-Juwel „peinlich“
Nach Agyemangs Tor in der Nations League erkannte schließlich auch Brighton, was für ein Juwel sich dank der Leihe im Kader befindet. Fortan kam sie mehr zum Zug, wofür sie sich mit zwei Treffern in drei Spielen bedankte. „Immer wenn ich auf dem Platz stehe, glaube ich daran, dass ich ein Tor schießen werde“, sagte sie selbst.
Dieses Selbstvertrauen strahlt sie aktuell auch bei der EM aus. Dabei gilt sie außerhalb des Platzes als ruhig und bescheiden, was sich auch bei ihren Torjubeln zeigt. Dort ist sie ziemlich das Gegenteil ihrer Teamkollegin Kelly, die ihre Treffer gar nicht extrovertiert genug zelebrieren kann. Agyemang findet Torjubel eher unangenehm und „peinlich“.
Das schadet dem Verhältnis der beiden Super-Einwechselspielerinnen jedoch nicht. So verriet die Teenagerin, was ihr Kelly direkt nach ihrer Einwechslung gesagt hatte: „Geh‘ und sei du selbst, geh‘ und stifte Chaos, geh‘ und ändere das Spiel.“
Mit Gospelmusik und Klavierspielen zum Erfolg
Das tat sie, wovon sich auch BBC-Journalistin Salley beeindruckt zeigte. Agyemang sei eine Spielerin, die „bereit ist, alles für die Mannschaft zu geben. Sie ist fleißig, intelligent und scheint mit viel Freiheit zu spielen“. Zudem habe sie sich „nicht unter Druck setzen lassen – selbst als 19-Jährige.“
Den nötigen Fokus für ihre Joker-Einsätze holt sich Agyemang dabei unter anderem mit dem Hören von Gospelmusik vor den Spielen. Musik spielt im Leben der Lioness generell eine große Rolle.
Ihr Klavier wurde für die EM sogar extra ins Teamhotel transportiert, wo sie laut eigenen Aussagen „vor allem an Spieltagen wahrscheinlich etwa zwei Stunden damit verbringt, einfach nur zu spielen und Spaß zu haben.“
Schlägt Agyemang gegen Spanien erneut zu?
Dies wird Agyemang sicher auch vor dem Finale so handhaben. Mit ihren Leistungen hat sie sich klar empfohlen, auch dort zum Zug zu kommen – ein Einsatz von Beginn an ist aber dennoch nicht zu erwarten.
„Bei der EM 2022 blieb Wiegman in allen sechs Spielen bei derselben Startelf (…). Der Einsatz von Agyemang und Chloe Kelly im späteren Verlauf des Spiels hat sich bisher als erfolgreich erwiesen, daher sehe ich keinen Grund, warum Wiegman ihre Vorgehensweise nur für das Finale ändern sollte“, sagte Salley.
Der Shootingstar soll also aller Voraussicht nach wieder als Joker zünden – gelingt das erneut und England verteidigt tatsächlich seinen Titel, wäre Agyemang wohl nicht mehr nur die Retterin, sondern dann auch die Heldin der Nation.