Eigentlich will Nadia Nadim bei der Fußball-EM der Frauen in der Schweiz einfach nur sie selbst sein. „Meine Rolle ist es, Nadia zu sein“, sagte sie dieser Tage der dänischen Agentur Ritzau. „So einfach ist das.“
Ein Fußballmärchen - mit Schatten
Als ob das angesichts ihres bewegten Lebens wirklich so simpel wäre.
37 Jahre ist Nadim mittlerweile, am frühen Abend könnte sie im Gruppenspiel gegen die DFB-Frauen (18.00 Uhr im SPORT1-LIVETICKER) zum 107. Mal für Dänemark auf dem Platz stehen.
Nach der Frauen-EM ist Schluss für Nadim
Es könnte eines ihrer letzten Länderspiele werden, denn nach der EM ist Schluss, das hat Nadim bereits im Vorfeld des Turniers angekündigt. 2017 wurde sie mit Dänemark Vize-Europameisterin, nun ist sie zum fünften und letzten Mal bei einer EM-Endrunde dabei.
Ihre Nominierung durch Nationalcoach Andrée Jaglertz kam durchaus überraschend. Schließlich hatte Nadim vor dem Turnier ihr bislang letztes Länderspiel bei einem 0:3 gegen Deutschland in der Nations League im Dezember 2023 absolviert.
Dazu hatte sich die Stürmerin Anfang des Jahres bei der AC Mailand mit Trainerin Suzanne Bakker überworfen. Mit ihrer Leihe nach Schweden zu Hammarby IF lieferte sie aber zugleich den Beweis, es sportlich noch einmal wissen zu wollen.
Deutliche Worte zum Zoff mit Milan-Trainerin
„Ich habe hart gearbeitet, um in meinem Leben an einen Punkt zu kommen, an dem ich nicht von Idioten umgeben sein muss“, wählte Nadim über ihr Zerwürfnis mit Bakker deutliche Worte.
„Wenn ich etwas gefragt werde, sage ich es so, wie es ist. Ich bin ein direkter und geradliniger Mensch“, bekräftigte sie bei Bold ihre Wortwahl.
Alles andere als geradlinig verlief ihr Weg in die dänische Nationalmannschaft.
Ihre Geschichte beginnt im afghanischen Herat, im Westen des Landes. Sie wuchs mit vier Schwestern auf, die Familie lebte in der Nähe der afghanischen Präsidenten-Familie. Ihr Vater war ein hochrangiger General des afghanischen Militärs.
Die Taliban töteten Nadims Vater
Das machte ihn zu einem exponierten Ziel für die Taliban, die um die Jahrtausendwende immer mehr Gefolgsleute um sich scharen konnten. Sie entführten Rabani Nadim im Jahr 2000 und richteten ihn in der Wüste hin. Da war Nadia elf Jahre alt.
„Lange Zeit dachte ich, er würde wieder auftauchen“, erinnerte sich Nadim vor einiger Zeit im Gespräch mit der SPORTbible. „Er war ein James-Bond-Typ“, beschrieb sie ihren Vater.
Vier Jahre wartete sie vergebens auf ein Lebenszeichen - während das Leben für Frauen in Afghanistan immer schwerer wurde. Sie durften nur noch in Begleitung von Männern vor die Tür treten, Nadim durfte nicht zur Schule gehen. Musik und Fernsehen waren verboten.
„Man musste immer in Begleitung sein. Selbst wenn man nur Lebensmittel einkaufen ging. Man durfte keinen Teil seiner Haut zeigen. Die Menschen lebten in einem ständigen Zustand der Angst. Es war der blanke Horror“, erinnerte sich Nadim.
Flucht nach Dänemark
Die Familie floh über Italien und landete schließlich in Dänemark in einem Flüchtlingslager. In der Nähe sah sie Mädchen Fußball spielen. Ihr Interesse war geweckt. Eines Tages fasste sie all ihren Mut zusammen und fragte, ob sie mitspielen dürfe.
Mit 18 absolvierte sie beim dänischen Klub Team Viborg ihre ersten Schritte im Profifußball. 2009 debütierte sie für Dänemark und schrieb als erste eingebürgerte Dänin im Nationalteam Geschichte. Später spielte sie in den USA und lief für Manchester City und Paris Saint-Germain auf.
Und nebenbei studierte Nadim Medizin. 2022 schloss sie ihr Studium ab, arbeitete anschließend als Ärztin und engagierte sich in der Flüchtlingshilfe. Zudem spricht sie nach eigenen Angaben neun Sprachen.
Nadims Image bekommt Kratzer
Sie galt als Vorbild für gelebte Integration und wurde 2017 zur „Dänin des Jahres“ gewählt. Doch 2022 bekam Nadims Image Kratzer.
Sie engagierte sich als Botschafterin für WM-Gastgeber Katar, dem immer wieder Menschenrechtsverletzungen und eine Nähe zur Taliban vorgeworfen wurden. Wie passt das zusammen?
Auch in Dänemark stellte man sich diese Frage. Verbandsdirektor Peter Möller zeigte sich damals „super verärgert und enttäuscht“. Ihre Botschafterrolle gehe „gegen alles, wofür wir stehen“, schimpfte er. Die dänische Flüchtlingshilfe und UNESCO Dänemark beendeten ihre Zusammenarbeit mit Nadim.
Schocknachricht während TV-Übertragung
Bei der WM selbst war Nadim als TV-Expertin für das dänische Fernsehen im Einsatz - und musste während der Übertragung des Auftaktspiels der Dänen einen persönlichen Schicksalsschlag verkraften. Im Fernsehstudio erfuhr sie vom Tod ihrer Mutter.
„Worte können nicht beschreiben, was ich fühle“, schrieb Nadim später auf Instagram, „ich habe die wichtigste Person in meinem Leben verloren.“ Ihre Mutter sei auf dem Heimweg vom Fitnessstudio von einem Lastwagen erfasst worden. „Es geschah so plötzlich und unerwartet. Sie war erst 57 Jahre alt. Das Leben ist unfair.“
Nun sagte sie im Vorfeld der EM bei Bold: „Man weiß nie, was morgen passiert, und das Leben hat mich gelehrt, dass sich die Dinge über Nacht ändern können. In erster Linie geht es darum, hier bei der Europameisterschaft so weit wie möglich zu kommen.“