Ein paar Sekunden lang schien Mathias Gidsel nicht so recht gewusst zu haben, was nun zu tun war. Kopfschüttelnd schlenderte er zurück aufs Spielfeld, holte sich Trost bei Kapitän Max Darj ab, dann auch bei Lasse Andersson und Fabian Wiede. Die Fassungslosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ebenso eine zünftige Portion Frust. Danach schlich er auch schon wieder weg, hockte sich auf die Tribüne und versteckte sich lange hinter seinem Trikot.
Mehr als nur Gidsel
Rot nach nicht mal neun Minuten. Im Halbfinale des Final Four der Champions League in Köln, dem oft beschriebenen Mekka des Handballs. Eigentlich wie geschaffen für Gidsel, dort sollte er seine Ausnahmesaison mit dem nächsten Titel krönen – bis es geschah und der Feldverweis alle Pläne der Füchse Berlin plötzlich ins Wanken brachte. Zweifel wuchsen stattdessen, trotz eines starken Starts und einer 6:3-Führung.
Zuvor war Gidsel beim Verteidigen unglücklich ausgerutscht und dabei in Kauldi Odriozola, den Rechtsaußen des HBC Nantes, hineingefallen. Das Schiedsrichtergespann wertete die Aktion als grobes Foul und schickte ihn runter. Diskutabel, aber vertretbar – und ein absoluter Tiefschlag für die Füchse Berlin. Die zentrale Frage, die im weiten Rund der Lanxess Arena sofort aufkam, lautete: Können sie es auch ohne den „Außerirdischen”, ohne den „Alleskönner”? Oder schlägt nun die große Stunde des Außenseiters aus Frankreich?
Teamkollegen springen für Gidsel in die Bresche
Kein Wunder, schließlich konnte man in den vergangenen Tagen und Wochen durchaus den Eindruck gewinnen, dass die Füchse auch wegen ihres Teamgefüges groß aufspielt, vor allem aber von Gidsel getragen werden. Der Linkshänder wirkte, als könne er seine Leistungsgrenzen immer weiter nach oben verschieben, und stellte einen Rekord nach dem anderen auf. Im Verein und in der Nationalmannschaft. Mit Dänemark gewann er Gold bei den Olympischen Spielen 2024 und den WM-Titel 2025, wobei er selbst aus diesem Weltklasse-Ensemble immer wieder herausstach.
Rund eineinhalb Stunden später erhielten die über 20.000 Fans in Köln jedoch eine einigermaßen überraschende Antwort auf ihre Frage: Ja, Gidsel ist ein außergewöhnlicher Spieler, der mutmaßlich beste Handballer, den dieses Turnier zu bieten hat. Doch die Füchse können es auch ohne ihren Top-Star. Und zwar richtig gut. Trotz des frühen Schocks deklassierten sie den französischen Vizemeister und siegten letztlich mit 34:24. Unter anderem lag das an Torhüter Dejan Milosavljev, der einen ganz Tag erwischte und Nantes mit 15 Paraden verzweifeln ließ. An Lasse Andersson, der als Balleroberer, Torschütze oder Vorbereiter glänzte. Und an Tim Freihöfer, der gleich zehnmal traf.
Platzierte Würfe, Tempogegenstöße, offensives Positionsspiel – die Füchse brachten ihre Stärken von Anfang bis Ende auch ohne Gidsel zur Geltung und können fortan behaupten, weit mehr als eine One-Man-Show zu sein. Andere sprangen in die Bresche, als es dringend nötig war, und zeigten: Das Team, die über Jahre reifen konnte und Fehler machen durfte, hat gelernt. Spieler wie Freihöfer, Nils Lichtlein oder Matthes Langhoff. Alle aus der eigenen Jugend, inzwischen Nationalspieler und keine Leute mehr, die lediglich die zweite Geige spielen. Angeleitet werden sie vom jüngsten Trainer der Bundesliga, Jaron Siewert, erst 31 Jahre alt.
„Wir sind die beste Mannschaft der Welt“
Diese Erkenntnis sorgte natürlich auch bei dem niedergeschlagenen Gidsel für große Erleichterung. „Wie die Mannschaft nach dieser bitteren Szene reagiert hat, war unfassbar. Ich bin extrem stolz auf dieses Team, dass es sich nicht aus dem Konzept hat bringen lassen“, sagte der 26-Jährige. „Ich hatte kurz Panik. Wir haben viele junge Spieler und plötzlich war ich in genau diesem Spiel nicht mehr dabei.“ Aber, das betonte er ausdrücklich, „besser hätten es die Jungs nicht machen können“. So ließ sich Gidsel zu einer mutigen These hinreißen.
„Für mich steht seit heute fest: Wir sind die beste Mannschaft der Welt - auch ohne mich. Natürlich hatten wir heute nicht unseren normalen Ballfluss und auch die eine oder andere Schwächephase. Aber wenn dieses Spiel eines gezeigt hat, dann, dass wir immer unseren Weg finden“, fuhr Gidsel fort. „Deswegen bin ich auch extrem stolz, wie sie das gemacht haben. Es ist nicht einfach, ein Halbfinale mit plus zehn zu gewinnen. Das ist verrückt und zeigt, wie gut diese Mannschaft ist.“
Im Finale am Sonntag treffen die Füchse nun auf den SC Magdeburg. Dieser machte mit einem dramatischen 31:30 gegen den FC Barcelona das dritte deutsche Champions-League-Endspiel der Geschichte perfekt. Beim Blick auf den ultimativen Showdown gewann Gidsel seiner unfreiwilligen Zuschauerrolle aber doch etwas Positives ab. „Ich habe natürlich ein bisschen mehr Energie für morgen. Und ich will zeigen, dass ich auch hier war - mehr als zehn Minuten“, sagte er lachend. Es klang fast wie eine Drohung.