Im industriellen Herzen Manchesters sind stürmische Zeiten angebrochen. Das Old Trafford, die Heimstätte von Englands Rekordmeister Manchester United, galt lange Zeit als Festung.
„Alles hagelt auf dich ein“
Seit über 100 Jahren tragen die Red Devils im Old Trafford ihre Heimspiele aus und legten dort den Grundstein für 20 Meisterschaften in der Premier League. Doch das „Theater der Träume“ wird für Manchester United immer mehr zu einem Ort für eigene Albträume.
Zwölf Spiele im Old Trafford hat United in dieser Saison in der Liga absolviert, die Bilanz: Fünf Siege, ein Remis und sechs Niederlagen - was Platz 11 in der Heimtabelle bedeutet. Aktuell belegt Manchester United in dieser Premier-League-Saison Rang 13.
United-Entwicklung geht „konstant bergab“
Die jüngste 1:3-Heimniederlage gegen Brighton & Hove Albion veranlasste United-Cheftrainer Rúben Amorim zu einer unüblichen Äußerung, der Portugiese bezeichnete seine Mannschaft als „wohl das schlechteste Team in der Vereinsgeschichte“. Liegt er damit richtig? John Murray, Kommentator und Fußball-Korrespondent der britischen Rundfunkanstalt BBC, interpretiert die Geschehnisse ein wenig anders.
„Nein, da stimme ich ihm nicht zu. Ich weiß auch nicht, warum er so etwas sagen muss. Manchester United ist in der Vergangenheit auch schon abgestiegen (zuletzt 1973/74, Anm. d. Red.). Diese Teams waren definitiv schlechter als die aktuelle Mannschaft“, erklärte Murray im Gespräch mit SPORT1.
Murray: „Dafür kann Amorim nichts“
Trotz der angespannten Lage zeigte sich der 58-Jährige zuversichtlich, dass die Red Devils in diesem Jahr nicht absteigen werden. Dennoch ist für ihn klar: „Die Entwicklung des Klubs geht nach der Amtszeit von Sir Alex Ferguson konstant bergab. Mit Rúben Amorim waren sich viele Menschen in England sicher, dass der Klub in ihm endlich den richtigen Trainer gefunden hat, um wieder erfolgreich sein zu können.“
Bislang ist noch nicht viel davon zu sehen. Amorim, der zu Beginn der Saison mit Sporting Lissabon einen beeindruckenden Fußball spielen ließ und bis zum Zeitpunkt seines Abschieds elf Siege aus elf Ligaspielen eingefahren hatte, wechselte im November nach England. Mit 15 Punkten nach elf Spielen stand United zum damaligen Zeitpunkt auf Platz 13 - nun, elf Spiele später, steht der Klub immer noch auf dieser Position.
Sechs Niederlagen kassierte Amorim in der Liga bereits als United-Coach, vier davon im heimischen Old Trafford. „Vor allem die Leistungen im heimischen Stadion bereiten den Fans große Sorgen. Vor wenigen Tagen ist United zum Beispiel Gefahr gelaufen, gegen Southampton (mit Abstand Letzter in der Premier League, d. Red.) zu verlieren, was die größte Blamage der Saison gewesen wäre“, führte Murray aus.
Tatsächlich lag United gegen Southampton bis zur 82. Minute mit 0:1 zurück, ehe Amad Diallo in den Schlussminuten einen Hattrick zum 3:1-Sieg erzielte.
Die alleinige Schuld für die anhaltende Krise bei Manchester United wollte Murray jedoch nicht an Amorim festmachen. „Er ist noch nicht lange in England und man darf ihm nicht die alleinige Schuld für die aktuelle Situation geben. Es wäre total unfair, er hatte in die Kaderzusammenstellung noch keinen großen Einfluss und außerdem muss man klar festhalten: Der Kader von Manchester United sollte viel besser sein als er momentan ist. Sie spielen eine unglaublich inkonstante Saison.“
Murray wisse, dass in der Vergangenheit „offensichtlich falsche Entscheidungen in der Vereinsführung getroffen worden sind, dafür kann Amorim aber nichts. Er muss mit den Spielern arbeiten, die ihm zur Verfügung stehen und es ist normal, dass er etwas Zeit benötigt. Seine Karriere verlief bislang sehr steil, in Manchester bekam er jetzt eine große Chance. Er muss seinen Weg finden.“
„Alles hagelt auf dich ein“
Allzu viel Zeit hat Amorim allerdings nicht, um in Englands drittgrößter Stadt das Ruder umzureißen. Ähnlich, wie es in Deutschland bei vielen großen Traditionsklubs wie Bayern, Dortmund oder Schalke ist, herrsche in Manchester „Druck von allen Seiten. Als Trainer brauchst du viel Energie, Manchester United ist einer der größten Klubs der Welt - und das spürst du als Trainer. Die Fans, die Medien, alles hagelt auf dich ein.“
Der 58-Jährige stellte klar: „Wenn die Ergebnisse schlecht sind, bekommst du das sehr hart zu spüren. Er wusste, was ihn in Manchester erwarten würde.“
„United ist in einer neuen Realität angekommen“
Geschuldet dem hohen Druck sind auch die Erwartungen der United-Fans, die trotz der jüngsten Jahre immer noch immens sind. Das schadet dem Klub, wie Murray befand.
„Fans von Manchester United wollen atemberaubenden Offensivfußball sehen. Außerdem wollen sie wieder vermehrt Spieler aus der eigenen Jugend auf dem Platz sehen, was den Klub in der großen Vereinsgeschichte immer ausgezeichnet hat. Außerdem erwarten sie, dass der Klub jede Saison um den Titel in der Liga mitspielt. Sie haben ja auch Titel in den vergangenen Saison gewonnen, letztes Jahr den FA Cup und das Jahr zuvor den EFL Cup. Aber selbst das war den Fans nicht genug“, so der 58-Jährige.
„Sie trauern in einer gewissen Hinsicht den Zeiten um Sir Alex Ferguson hinterher, doch diese sind lange vorbei. United ist in einer neuen Realität angekommen.“
Erwartungen der United-Fans zu hoch?
Diese neue Realität heißt für die Red Devils schon lange nicht mehr Titelkampf. 2013 wurde man zuletzt Englischer Meister, in den vergangenen Jahren dominierten vor allem ausgerechnet Uniteds größte Rivalen die Geschehnisse in England. Sechs Mal sicherte sich Stadtrivale Manchester City in den vergangenen sieben Jahren die Meisterschaft, der FC Liverpool schlug 2020 zu.
„Die Lücke zu den beiden größten Rivalen ist größer geworden. Er erfolgreicher Cheftrainer von United hat die Aufgabe, diese Lücke wieder zu schließen. Das ist offensichtlich eine sehr schwere Aufgabe. Die Kader von City und Liverpool sind deutlich besser und wenn alle Teams in Top-Form sind und vom Verletzungspech verschont wurden, besteht eine erhebliche Lücke zwischen United und seinen Rivalen“, betonte Murray.
„Es wäre nahezu unfair, zu erwarten, dass United mit City und Liverpool auf Augenhöhe agieren kann. Aber die Erwartungen der United-Fans sind sehr hoch, vermutlich zu hoch.“