Gerhard Stöck war ein Mann, der die Verhältnisse für sich zu nutzen wusste, sein größter Triumph als Sportler zeugte davon.
Eine auf Lügen aufgebaute Karriere
Es war der 6. August 1936, der vielseitig begabte Leichtathlet war bei Olympia in Berlin im Speerwurf am Start – und holte den Sieg, weil er die widrige Witterung an dem Tag am besten einzuschätzen wusste: Er warf besonders flach ab, so dass der scharfe Wind den Flug des Wurfobjekts weniger beeinträchtigte. 71,84 Meter im fünften Versuch bedeuteten einen klaren Sieg vor den finnischen Rivalen Yrjo Nikkanen und Kalervo Toivonen.
Gerhard Stöck wurde mit seinem Gold-Coup vor den Augen der NS-Führung um Adolf Hitler ein Vorzeigesportler des nationalsozialistischen Deutschlands - mit 1,89 Metern Körpergröße, blonden Haaren und blauen Augen entsprach er auch vollends dem damaligen Idealbild der arischen „Herrenrasse“. Auch in der Nachkriegs-BRD war Stöck eine bedeutsame Figur des Sports, war ein einflussreicher Funktionär und bei zwei Olympischen Spielen der deutsche Chef de Mission.
Der ehemalige Spitzenathlet starb heute vor 40 Jahren als geachteter Mann, dessen Vermächtnis als verdienstvoll und vorbildlich betrachtet wurde. Inzwischen hat sich das Bild allerdings stark gewandelt: Nach Stöcks Tod wurde klar, dass seine Verstrickungen mit dem Nazi-Regime tiefer waren als er zugegeben hatte – und dass seine Karriere danach auf Lügen und Täuschungen aufgebaut war.
Steile Karriere im NS-Regime
Stöck, geboren am 28. Juli 1911 im damaligen Kaiserswalde in Niederschlesien (heute: Lasowka in Polen), war zum Zeitpunkt seines Olympia-Triumphs ein junger Lehramtsanwärter und ein überzeugter Nationalsozialist.
Am 5. Mai 1933, kurz nach der Machtergreifung, trat Stöck in die SA ein, die gefürchtete paramilitärische Einheit, die als Kampf- und Propaganda-Organisation ein Wegbereiter des Aufstiegs der NSDAP war – und deren Macht durch gewalttätige Übergriffe auf Andersdenkende sicherte.
1936 nahm Stöck – der in Berlin auch Bronze im Kugelstoßen gewann – am Reichsparteitag teil und rief bei der Reichstagswahl alle Sportkameraden auf, ihre Stimme „dem Führer zu geben“. 1937 trat er in die NSDAP ein, bei der SA wurde er schrittweise bis in den Rang des Sturmbannführers befördert.
Beruflich diente Stöck dem Regime in der Reichsakademie für Leibesübungen und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Seine Stellung war so hochrangig, dass er zeitweise Reichssportführer Hans von Tschammer und Osten bei offiziellen Anlässen vertrat.
Der verlorene Weltkrieg und die neue politische Ordnung ab 1945 bedeuteten einen Bruch in der steilen Karriere des bei Kriegsende 33-Jährigen – jedoch keinen nachhaltigen.
Nach dem Krieg schönte Stöck seine Vita
Der nach Hamburg übergesiedelte Stöck bewarb sich in der Hansestadt um eine Anstellung am dortigen Institut für Leibesübungen. Der dazu nötige Prozess der Entnazifizierung stand jedoch im Weg: In erster Instanz entschied die britische Militärregierung, dass Stöcks NS-Karriere zu schnell und steil gewesen wäre, als dass er „nur“ als Mitläufer zu gelten hätte.
Stöck ging in Berufung und beharrte auf seiner Behauptung, er sei ein unpolitischer Mensch gewesen, der sich nur „zum Ruhme des Vaterlandes und zur Ehre des Sports eingesetzt“ hätte und „ein Gegner des nationalsozialistischen Zwanges“ gewesen sei (O-Töne aus den Antworten Stöcks im Fragebogen der britischen Besatzer).
Seinen frühen SA-Beitritt verschwieg Stöck, die NSDAP-Mitgliedschafft stellte er als erzwungen dar. Stöck fälschte sogar sein Geburtsdatum, was die Nachvollziehbarkeit seiner Verstrickungen erschwerte.
„Nicht wenige Nazis haben durch derartige Fälschungen versucht, Spuren zu verwischen“, vermerkten die Autoren Peter und Paul Busse 2011 in einer Aufarbeitung des Falls Stöck für den Verein „Freunde der Leichtathletik“. Paul Busse war in den siebziger und achtziger Jahren ein hochrangiger SPD-Politiker in Hamburg, sein Bruder Peter Journalist.
Im Nachhinein wollte er Regimegegner gewesen sein
Stöck trat 1946 selbst der SPD bei, was seine Anstrengungen in Bezug auf seine Reinwaschung erleichterte: Mit Hilfe zahlreicher „Persilscheine“ – schriftliche Leumundszeugnisse von teils selbst NS-belasteten Freunden – überzeugte er das zuständige Berufungskomitee schließlich von seiner Selbstdarstellung als reuiger, kleiner Sünder.
„Ich fühle mich nicht frei von Schuld“, gab Stöck zu, versicherte aber: „Ich habe niemandem geschadet, sondern war Idealist im Sport.“
Der Ausschuss glaubte ihm - und ging sogar so weit, Stöck zu bescheinigen, dass er „stets ein Gegner des Nationalsozialismus gewesen ist“, der seine SA-Würden „gegen seinen Willen“ erhalten hätte.
Der Weg für Stöcks neue Karriere war frei: 1950 wurde Stöck Leiter des Sportamts Hamburg. 1956 und 1960 war er Delegationschef der deutschen Olympia-Mannschaft – berufen vom damaligen NOK-Chef Carl Ritter von Halt, selbst früher hochrangiger Würdenträger im NS-Sport.
Posthume Würdigung mündete in Eklat
Stöck führte das Hamburger Sportamt 25 Jahre lang, bis er 1975 feierlich verabschiedet wurde, er blieb als engagierter und leidenschaftlicher Funktionär in Erinnerung. Auch die Busse-Brüder, die ihn persönlich kannten, bescheinigten ihm, im persönlichen Umgang ein „hilfsbereiter und liebenswürdiger Mitmensch“ gewesen zu sein.
Nach seinem Tod am 29. März 1985 hielt die Stadt Hamburg sein Andenken aufrecht, indem sie den Gerhard-Stöck-Preis ins Leben rief, den sie an verdiente Sportler und Vereine vergab.
2006 endete die Tradition mit einem Eklat: Die als Preisträgerinnen ausgewählte Rugby-Frauenmannschaft des FC St. Pauli – ausgerechnet -, gaben die Auszeichnung wegen der NS-Belastung ihres Namensgebers zurück. Der Stöck-Preis wurde danach stillschweigend eingestellt.