Als sich Frederik Ruppert am späten Sonntagabend auf seine letzte Runde machte, dachte er nur: „Ach du Kacke! Das wird sehr schnell.“
Sportgeschichte aus dem Nichts
Die Bedingungen beim 3000-Meter-Hindernisrennen der Diamond League im Marokkos Hauptstadt Rabat waren ideal. Ein laues Lüftchen wehte durchs prall gefüllte Stadion und vor Ruppert schickte sich Soufiane El Bakkali unter ohrenbetäubendem Lärm seiner frenetischen Landsleute an, die Jahresweltbestzeit zu knacken, was ihm in 8:00,70 Minuten auch gelang.
Doch die wahre Sensation spielte sich im Rücken des Olympiasiegers ab. In einem furiosen Steigerungslauf, bei dem Ruppert sich sukzessive im Feld vorarbeitete, spurtete der Deutsche Meister von 2024 nur 79 Hundertstel hinter dem Lokalmatador auf Platz zwei.
Vergleichbar nur mit Klosterhalfens Sololauf
Rupperts Zeit von 8:01,49 Minuten zerschmetterte den deutschen Uralt-Rekord von Damian Kallabis um fast acht Sekunden, seine bisherige Bestzeit steigerte er sogar um sagenhafte 15 Sekunden.
Binnen siebeneinhalb Runden katapultierte sich der Rotschopf damit in die absolute Weltspitze. Den Europarekord (8:00,08 Minuten) des Franzosen Mahiedine Mekhissi verpasste er nur um knapp eineinhalb Sekunden.
Klammert man den sensationellen Olympiasieg von 800-Meter-Läufer Nils Schumann 2000 in Sydney einmal aus, dürfte Rupperts Coup die erstaunlichste Laufleistung eines deutschen Athleten in diesem Jahrtausend gewesen sein. Vergleichbar allenfalls mit Konstanze Klosterhalfens legendärem Sololauf im Sommer 2019, als sie in Berlin den deutschen 5000-Meter-Rekord ebenfalls pulverisierte.
Doch wie ist eine solche Leistungssteigerung erklärbar? Zumal Ruppert sich im Gegensatz zu Klosterhalfen, die mit ihren damals 22 Jahren noch am Anfang ihrer Karriere stand, mit seinen 28 Jahren schon im fortgeschrittenen Sportleralter befindet.
Im Gespräch mit SPORT1 verweisen Ruppert und seine Trainerin Isabelle Baumann vor allem auf die mentale Ebene, die offenbar eine entscheidende Rolle spielt.
„Man hat ihm nicht erlaubt, ganz groß zu denken“
„Dass der Junge ein außergewöhnliches Talent ist, weiß man schon seit langer Zeit“, sagt Baumann, die den gebürtigen Aachener seit 2023 trainiert. „Ich hatte das Gefühl, man hat ihm nicht erlaubt, ganz groß zu denken und Grenzen auszuschalten.“
Ruppert habe im vergangenen Jahr in entscheidenden Situationen nicht an sich geglaubt, erklärt die Ehefrau von 5000-Meter-Olympisieger Dieter Baumann (1992 in Barcelona). „Da hat mich Freddy einige graue Haare gekostet, weil er trotz seines großen Talents es sich nicht vorstellen konnte, dass er so schnell laufen kann.“
So wie bei der EM in Rom, als Ruppert das Finale lange Zeit mitgestaltet hatte, auf der Zielgeraden aber seinen deutschen Teamkameraden Karl Bebendorf passieren lassen musste, der ihm die Bronzemedaille vor der Nase wegschnappte.
„Und deshalb ist dieses Rennen in Rabat vielleicht enorm wichtig“, hofft Baumann. „Jetzt weiß er: ‚Jungs, lauft mal. Aber ich bin auch da‘.“
Das Rennen in Rabat habe ihm genau das veranschaulicht, sagt auch Ruppert, der diesen psychologischen Prozess bei sich selbst beobachtete.
„Eine 8:01 ist surreal“
„Ich glaube schon, dass ich ein Läufer bin, der immer sehr niedrig stapelt, ein recht geringes Selbstbewusstsein hat und schnell verunsichert ist“, gibt er zu. „Aber der vergangene Winter hat mir gezeigt, dass ich einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht habe. Die Rennen haben mir so viel Spaß gemacht und es ging mir dabei immer gut. Dann ist es direkt ein ganz anderes Laufen.“
Hand in Hand mit der neu gewonnenen mentalen Stärke gingen auch die läuferischen Fortschritte, die Baumann und Ruppert im Vorfeld des Diamond-League-Rennens vermuten ließen, dass der Deutsche Rekord fällig sei.
„Aber bei einer 8:01 haben wir beide mich nicht gesehen“, gesteht Ruppert. „Bei einer 8:06 oder 8:07 hätte man gesagt: ‚Okay, bei einem super Rennen hätten wir das mir zugetraut.‘ Aber eine 8:01 ist surreal.“
So ganz begreifen kann auch seine Trainerin die Leistung nicht, verweist aber auf verschiedene Faktoren, die an diesem geschichtsträchtigen Abend zusammengekommen seien. „Man läuft sich irgendwann in einen Rausch. Freddy hat gemerkt, dass es ihm gut geht, und dann hat er begonnen, El Bakkali zu jagen.“
„Ich bin mir sicher, dass einige Leute skeptisch sind“
Durch die brodelnde Stimmung im Stadion seien Athleten in der Lage, „die ein oder andere Sekunde schneller zu laufen. Klar, 8:01 sind der komplette Wahnsinn, das kann ich auch noch gar nicht richtig einordnen – aber ich hatte wenig Zweifel, dass er unter dem Deutschen Rekord laufen würde.“
Dass Ruppert mit seiner extremen Steigerung auch Skeptiker auf den Plan ruft, ist ausgemacht – zumal erst vor wenigen Tagen bekannt wurde, dass die NADA die Namen von 130 deutschen Dopingsündern, auch aus der Leichtathletik, unter Verschluss hält.
„Ich bin mir sicher, dass einige Leute skeptisch sind“, ist sich Ruppert bewusst, schiebt aber hinterher: „Natürlich ist eine 8:01 eine krasse Zeit, mit der ich selbst nicht gerechnet habe – aber dass ein Leistungssprung kommt, war nicht unvorhersehbar.“
Bereits 2019 hatte er als U23-Europameister sein großes Talent angedeutet, 2022 war Ruppert der erste Deutsche seit 20 Jahren, der unter 8:20 Minuten blieb. Ihm habe in den vergangenen Jahren „einfach dieses Peak-Rennen gefehlt – und das ist jetzt gekommen. Natürlich ist es jetzt komplett explodiert.“
Der Blick geht Richtung Tokio
Dennoch könne er verstehen, „wenn die Leute skeptisch sind. Ich kann nur sagen, dass wir regelmäßig getestet werden, und wüsste nicht, wie man dem aus dem Weg gehen sollte. Es ist völlig zufällig, wir werden zu jeder Tages- und Nachtzeit getestet. Davon wird man oft überrumpelt.“
Derlei Diskussionen müssen ohnehin Frederick Ruppert nicht kümmern – sein Blick richtet sich schon auf die nächsten Höhepunkte, wie die Deutschen Meisterschaften und vor allem die WM in Tokio, wo er mit seiner Zeit urplötzlich Medaillenkandidat sein wird.
„Klar habe ich jetzt mehr zu verlieren als vorher, weil ich mit einer anderen Zeit dastehe und anders auf mich geschaut wird. Aber ich kann mir jetzt sagen, dass ich in diesem Jahr schon ein Riesending abgelassen und mich für die WM qualifiziert habe“, sagt er.
Überhaupt sei er nun in einer äußerst komfortablen Lage: „Jetzt kann ich mir die Rennen aussuchen – das sind Sachen, die mir enormen Rückenwind geben. Das ist eine Luxussituation, davon habe ich immer geträumt.“