Erfolgreicher hätte der 19. August 2008 für Jelena Issinbajewa wohl kaum verlaufen können. Die russische Stabhochspringerin hatte sich für die Olympischen Spiele in Peking Großes vorgenommen. Vier Jahre zuvor hatte sich die Ausnahmesportlerin in Athen bereits die Goldmedaille gesichert, in der chinesischen Metropole sollte dieser Triumph noch einmal bestätigt werden.
Die Leichtathletik-Ikone war Putins Vorzeigesportlerin - nun gilt sie als Verräterin
Eine umstrittene Leichtathletik-Ikone
Ein Vorhaben, das Issinbajewa gelang – auf außergewöhnliche Art und Weise. Nach zwei geglückten Versuchen über 4,70 m und 4,85 m stand die Russin bereits als Olympiasiegerin fest. Doch sie hatte noch nicht genug. Erst verbesserte sie den olympischen Rekord auf 4,95 m, dann schraubte sie sogar den Weltrekord auf 5,05 m.
Weltrekord und Olympiasieg 2004, Weltrekord und Olympiasieg 2008. Die Stabhochspringerin war endgültig im Olymp angekommen. Am Ende des Jahres wurde sie zudem zur Leichtathletin des Jahres gekürt. Ihr Pendant damals bei den Männern: Sprint-Legende Usain Bolt.
Die heute 43-Jährige gilt als beste Stabhochspringerin der Geschichte. Neben zwei Olympiasiegen blickt sie auf sieben Welt- und zwei Europameistertitel zurück. Als erste Frau übersprang sie zudem die Marke von fünf Metern. Issinbajewa war in Russland eine der Vorzeigesportlerinnen schlechthin, auch weil sie dem Regime von Wladimir Putin treu zur Seite stand. Inzwischen allerdings ist Issinbajewa in ihrer Heimat nicht mehr wohlgelitten.
Issinbajewa war Vorzeigesportlerin Putins
Vorauszusehen war diese Entwicklung nicht unbedingt: Issinbajewa, Tochter eines Klempners und einer Verkäuferin aus Wolgograd, fiel während und nach ihrer Karriere vielfach durch ihre politische Nähe zum autoritären System Putin auf.
Issinbajewa agierte mehrfach als Wahlkampfhelferin für Putin und als Sprachrohr des Regimes bei sport- und gesellschaftspolitischen Themen: In der Staatsdopingaffäre, die 2016 den Olympia-Ausschluss Russlands zur Folge hatte, giftete sie gegen die Whistleblowerin Julija Stepanowa („gehört lebenslang gesperrt“) und die „pseudo-sauberen Sportler“ aus anderen Ländern, die in Wahrheit nur die „Stärke“ des russischen Sports fürchten würden.
2016 attackierte sie in einem Interview mit dem Staatssender unter anderem auch den deutschen Sport und unterstellte „systematisches Doping“. Die internationale Irritation war groß, als sie Ende 2016 kurzzeitig zur Präsidentin der russischen Anti-Doping-Agentur Rusada berufen wurde.
2013 unterstütze Issinbajewa ein Gesetzesvorhaben Putins gegen „Homosexuellen-Propaganda“, sie unterstützte auch Russlands Rolle im Syrienkrieg, 2020 berief sie der Präsident sogar in eine Arbeitsgruppe für eine Verfassungsreform, die Putin den langfristigen Erhalt seiner Macht sichern sollte. Issinbajewa erklärte später, die russische Verfassung in ihrem Leben nicht einmal gelesen zu haben.
Issinbajewa war wegen ihrer Verdienste und ihrer Loyalität eine gern gesehene Repräsentantin des russischen Regimes: Sie diente 2014 als „Bürgermeisterin” des olympischen Dorfs in Sotschi, war auch Majorin der Armee - Berichten zufolge führte sie die militaristische Kinderarmee „Junarmija“, in der Kinder ab acht Jahren an das Militär herangeführt werden.
Folgen des Ukrainekriegs brachten die Legende unter Zugzwang
Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine geriet Issinbajewa wegen ihrer Rolle im System Putin jedoch unter Druck: Sanktionen und die internationale Isolation Russlands bedrohten ihre gesellschaftliche Position im Westen - die ihr offensichtlich auch nicht unwichtig war.
Issinbajewa, die zeitweise in Monaco gelebt hatte, war seit ihrem Karriere-Ende 2016 Mitglied des IOC und Teil der Athletenkommission. Nach dem Kriegsbeginn 2023 drohte sie ihr Mandat zu verlieren - und distanzierte sich im Zuge dessen vom russischen Regime.
Sie sei „Weltbürgerin“ und habe mit der russischen Politik nichts zu tun, behauptete die inzwischen auf Teneriffa lebende Issinbajewa plötzlich bei Facebook. Das IOC attestierte ihr, den Krieg in der Ukraine und die russischen Streitkräfte nicht zu unterstützen - Voraussetzung für ihre Weiterbeschäftigung.
In Russland nicht mehr gern gesehen
Issinbajewa sitzt nun zwischen allen Stühlen: In der Ukraine und von russischen Regimegegnern bekommt sie ihr jahrelanges Engagement für Putin vorgehalten, bei den Mächtigen in der Heimat gilt die aus der Öffentlichkeit mittlerweile weitgehend abgetauchte Sportlegende nun als fahnenflüchtige Landesverräterin.
Erst kürzlich warf ihr das russische Portal Life.ru in einem vernichtenden Porträt „Gleichgültigkeit gegenüber ihren Landsleuten“ vor, sie habe für ihre IOC-Privilegien „ihre Karriere, ihren Ruf und ihren moralischen Kompass“ geopfert. Auch von Steuerschulden der zweifachen Mutter ist in russischen Medien die Rede.
Bei aller Vorsicht, mit der die Berichterstattung zu genießen ist: Issinbajewas Status als Nationalheldin ist Vergangenheit.