Gina Lückenkemper ist bekannt dafür, vor Großereignissen verbal in den Angriffsmodus zu schalten. Die beste deutsche Sprinterin, die seit 2019 in Florida in einer Trainingsgruppe mit Superstar Noah Lyles arbeitet, gibt regelmäßig klare Ziele aus, will sich in der Weltspitze beweisen und ihre Ambitionen deutlich machen.
Viele wollen ihr nicht glauben
Viele wollen ihr nicht glauben
Auch vor den anstehenden Weltmeisterschaften (13.–21. September) positioniert sich die 28-Jährige kämpferisch: „Dieses Jahr ist in Tokio auf jeden Fall das Finale möglich, davon bin ich fest überzeugt“, sagte Lückenkemper mit unverkennbar amerikanisch gefärbtem Selbstvertrauen, nachdem sie Anfang August in 11,17 Sekunden überlegen Deutsche Meisterin wurde.
„Die Vorbereitung hat gestimmt, die Form passt auch. Ich habe letztes Jahr gezeigt, dass ich auch im September schnelle Zeiten laufen kann. Von daher wird in Tokio richtig angegriffen“, erklärte Lückenkemper in Dresden. Ihr Problem: Einen Endlauf bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen hat sie bislang in ihrer Karriere noch nie erreicht – allen vorherigen Ankündigungen zum Trotz.
Lückenkemper? Deutsche Leichtathletik-Legende skeptisch
Heike Drechsler, Olympiasiegerin und ehemalige Weltklasse-Sprinterin, schätzt Lückenkempers Finalchancen bei SPORT1 entsprechend skeptisch ein: „Gina ist in Deutschland derzeit konkurrenzlos, und auch auf europäischer Ebene gehört sie zu den Spitzenläuferinnen. Bei einer WM wird es für sie jedoch deutlich schwieriger, gerade über 100 Meter. Ein Finaleinzug wäre schon ein großer Erfolg, da die Leistungsdichte weltweit enorm ist.“
Lückenkempers Selbstverständnis tut dies jedoch keinen Abbruch: Nachdem sie vor einem Jahr ihre Bestzeit in Berlin auf 10,93 Sekunden gedrückt hatte, fühlte sie sich bestätigt: „Ich sage das ganze Jahr schon, da schlummert was Großes, viele Leute wollen es nicht glauben. Wir kommen dem Traum von einem großen Einzel-Finale von Jahr zu Jahr immer näher.“
Dafür, dass sich dieser Traum bei der WM in Tokio endlich erfüllt, müsste sie allerdings ihr größtes Problem in den Griff bekommen: die Startphase. Nicht selten sah man die deutsche Sprinterin schon nach zehn Metern der internationalen Konkurrenz hinterhersprinten - ein Manko, das über die kurze Distanz entscheidend sein kann.
„Es ist natürlich eine wahnsinnige Herausforderung, weil wir immer nur einen Versuch haben. Und der wird auch noch fremdgestartet, uns ist es also nicht selbst überlassen, loszulaufen, wann es uns gerade passt. Schön wär’s, das würde mir sehr entgegenkommen“, gab Lückenkemper wenige Tage vor WM-Beginn in der ARD offen zu.
Konkurrenz bei Leichtathletik-WM ist riesig
Lediglich bei Europameisterschaften konnte die Westfälin bisher ihre internationalen Ambitionen in Medaillen ummünzen, dort ist die Konkurrenz jedoch deutlich geringer. Mit ihrer schnellsten Saisonzeit (11,05 Sekunden) liegt Lückenkemper in diesem Jahr weltweit nur auf Platz 56.
Sprinterinnen wie Melissa Jefferson Wooden (USA) oder Julien Alfred (St. Lucia) sind in dieser Saison 30 bis 40 Hundertstel schneller – über 100 Meter sind dies Welten. In Dessau lief Lückenkemper im Juni zwar 10,93 Sekunden, allerdings mit zu viel Rückenwind, wodurch die Zeit nicht offiziell anerkannt wird.
Auch wenn einige vor ihr platzierten Athletinnen aus den USA und Jamaika in Tokio wegfallen, dürfte ein WM-Finalplatz nur dann in Frage kommen, wenn sie optimal startet.
Ob es dieses Mal klappt? Die Saison hat bisher gemischte Signale geliefert. Vor dem Diamond-League-Rennen in Chorzow wollte Lückenkemper „endlich eine richtig schnelle Zeit auf die Bahn brennen. Dass das in meinem Körper steckt, weiß ich schon eine Weile“, kündigte sie damals an.
Medaillenchancen mit der Staffel
Nach abermals schwachem Start wurde sie dann Letzte - ein Rückschlag, der die Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit verdeutlichte und gleichzeitig die Härte der internationalen Konkurrenz unterstrich. „Im Startblock nachzudenken, ist so ziemlich das Dämlichste, das man machen kann“, sagte sie anschließend. „Ich hatte einen Job heute – und den habe ich völlig vergeigt und völlig verkackt.“
Neben den Einzelrennen gibt es für Lückenkemper jedoch eine weitere Chance: die 4x100-Meter-Staffel. „Hier sehe ich sogar Medaillenchancen, wenn die Übergaben stimmen und alle Athletinnen den Teamgeist mitbringen“, sagt Drechsler. „Eine saubere Staffelarbeit kann im internationalen Vergleich entscheidend sein, und ich bin gespannt, wie sie das umsetzen werden.“
Die Staffel könnte für Lückenkemper tatsächlich die bessere Möglichkeit sein, ihre fraglos starke Form auf die Bahn zu bringen – weil sie als Läuferin auf Position drei oder vier nicht auf den Startschuss reagieren muss. Eine Medaille wie bei den Olympischen Spielen 2024 scheint realistischer als der Finaleinzug im Einzel.
Tokio wird für Gina Lückenkemper also erneut ein Balanceakt zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ihr bisheriges Muster zeigt: Die Ambitionen sind da, die Leistung auf den Punkt abzurufen, muss noch folgen. Es wäre ihr zu wünschen.