Eigentlich sprach an diesem schwülen Abend in Tokio wenig für Rekorde: feuchte Luft, eine rutschige Bahn, Bedingungen, die Spitzenzeiten eher verhindern. Doch dann überquerte Sydney McLaughlin-Levrone im 400-Meter-Finale die Ziellinie nach 47,78 Sekunden – und plötzlich war alles anders. Ihre Zeit versetzt die Welt der Leichtathletik in Aufruhr.
Leichtathletik-WM: Warum der Fabellauf misstrauisch macht
Warum der Fabellauf misstrauisch macht
Denn wer so schnell läuft, kratzt an den Grundfesten des Sports. Nur eine Frau war je schneller: Marita Koch, die 1985 beim Weltcup in Canberra 47,60 Sekunden benötigte, gelaufen in dunklen Zeiten des DDR-Staatsdopingsystems.
Dass nun eine US-Amerikanerin vier Jahrzehnte später in diese Dimension vorstößt, löst neben Begeisterung naturgemäß Skepsis aus. Die Erinnerung an die vergiftete Geschichte ist zu präsent, um sie zu verdrängen.
Ist das noch erklärbar?
Schon nach dem Halbfinale hatte McLaughlin-Levrone mit 48,29 Sekunden für hochgezogene Augenbrauen gesorgt - ein neuer US-Rekord, scheinbar mühelos erzielt. Im Finale dann der nächste Sprung – und im Schlepptau Marileidy Paulino, die ebenfalls verblüffte: Die Athletin aus der Dominikanischen Republik lief mit 47,98 Sekunden die drittschnellste Zeit der Geschichte.
Es ist genau diese Art von Leistung, die nicht nur Bewunderung, sondern auch Zweifel hervorruft: Ist das noch erklärbar allein mit Talent, Training und Disziplin?
Professor Fritz Sörgel, Pharmakologe und einer der bekanntesten deutschen Anti-Doping-Experten, beschreibt die Situation im Gespräch mit SPORT1 nüchtern: „Man muss immer Statistik und Biografie heranziehen, also die Lebensgeschichte der Athletin, und dann mit anderen Trainern vergleichen. Aber anders kann man es ja nicht machen. Man kann ja nicht ins Blut oder in den Urin reinschauen. Die Tests sind offensichtlich negativ.“
Sörgel: „Es stinkt natürlich“
Die Zweifel bleiben dennoch bestehen, betont Sörgel: „Es ist natürlich nicht so leicht, vorschnell zu urteilen, aber man hat immer wieder das geheimnisvolle Medikament, das es gibt. Und das macht dann zwei Prozent Unterschied – und die können enorm sein, wenn man zusätzlich etwas Chemisches tut, auf das man vertraut.“
Dass McLaughlin-Levrone ausgerechnet von Bob Kersee trainiert wird, verstärkt die Skepsis. Kersee hat seit Jahrzehnten Champions hervorgebracht – und war auch in die Balco-Affäre verwickelt. „Man kann davon ausgehen, dass er in Sachen Chemie sicher Kontakte hatte. Es stinkt natürlich, das kann man nicht wegreden“, sagt Sörgel.
1989 war der Coach im Windschatten des großen Olympia-Skandals um den als Doper entlarvten 100-Meter-Sieger Ben Johnson ins Zwielicht geraten. Bei einer sich daraus ergebenden Regierungsanhörung in Johnsons Heimat Kanada belastete Ex-Schützling Angela Bailey Kersee.
Bob Kersee und die Schatten der Vergangenheit
„Er wusste nicht, wie er mich trainieren soll, weil ich dopingfrei war“, sagte die Kanadierin damals, die eine Weile unter Kersee an der UCLA trainiert hatte: Dessen Trainingsregime sei so hart, dass es ohne Doping nicht zu überstehen gewesen sei. Bailey meinte, dass ihr so wenig Regenerationszeit gewährt worden sei, dass die Einnahme von Steroiden - die einen regenerativen Effekt auf den Körper haben - faktisch der einzige Weg gewesen wäre, durch Kersees Programm zu kommen.
Auch deshalb blieben die Zweifel, „dass das alles nur mit sauberen Mitteln abläuft“, sagt Sörgel. „Man muss aber auch die Lebensgeschichte, Trainingsmethoden und Veränderungen berücksichtigen.“ Die Leichtathletik ist ein Sport, in dem jeder außergewöhnliche Erfolg doppelt gelesen wird: als sportliche Sensation und als potenzieller Verdachtsfall.
„Wie glaubwürdig ist das alles?“
„Wenn man sich anschaut, wie Rekorde über Jahrzehnte gehalten wurden – selbst zwei Zehntel machen einen enormen Unterschied –, dann muss man auch diese Frage stellen: Wie glaubwürdig ist das alles?“, sagt Sörgel.
So ist es auch diesmal: Ein Beinahe-Weltrekord, der fasziniert, weil er sportliche Grenzen sprengt. Gleichzeitig eine Marke, die misstrauisch macht, weil die Leichtathletik nie frei von ihren Geistern wird. Jeder Jubel über eine neue Bestmarke ist begleitet vom leisen Raunen.
47,78 Sekunden. Eine Zahl für die Geschichtsbücher – und eine Zahl, die die Glaubwürdigkeit der Leichtathletik erneut auf die Probe stellt.