Heike Drechsler weiß, wie sich große Momente im Stadion anfühlen – die zweimalige Olympiasiegerin hat sie selbst erlebt und geprägt.
Mihambo, Weber und Co.: Drechslers große WM-Prognose
Drechsler: Mihambo „absolute Favoritin“
Die Weitsprung-Legende spricht im SPORT1-Interview über ihre unvergesslichen Erinnerungen an Tokio, verrät, warum sie Malaika Mihambo als Gold-Favoritin sieht und das deutsche Team diesmal so stark wie lange nicht mehr ist.
Außerdem fordert sie: Ex-Champions sollten ihr Wissen viel stärker an die nächste Generation weitergeben.
Leichtathletik-Legende: „Spürte, dass jeder das Maximum geben wollte“
SPORT1: Frau Drechsler, Tokio ist wieder Austragungsort der WM. Welche Erinnerungen haben Sie selbst an diese Stadt?
Heike Drechsler: Tokio ist immer eine sehr besondere Adresse für Leichtathletik. Ich habe dort viele schöne Erinnerungen, vor allem an die legendären Wettkämpfe, bei denen Carl Lewis und Mike Powell gegeneinander antraten. Die sind ja fast über die Grube gesprungen! Die Atmosphäre im Stadion war beeindruckend: alles war perfekt organisiert, die Stimmung im Publikum elektrisierend. Ich erinnere mich auch daran, wie sich die Athleten gegenseitig pushten – man spürte förmlich, dass jeder das Maximum geben wollte. Solche Momente prägen einen für das gesamte weitere Leben.
SPORT1: Wie verfolgen Sie heute die aktuellen Weitspringerinnen, zum Beispiel Malaika Mihambo?
Drechsler: Ich bin definitiv ihr größter Fan. Ich erinnere mich noch genau an Olympia 2016 in Rio, als sie mit persönlicher Bestleistung auf Platz vier sprang – das war beeindruckend. Seither hat sie sich weiterentwickelt, und ich sehe sie auch in Tokio wieder als absolute Favoritin. Sie bringt die nötige Erfahrung als Olympiasiegerin mit, kennt den Druck bei großen Wettkämpfen und weiß, wie man sich mental und technisch optimal vorbereitet. Tokio ist zudem für große Weiten bekannt, sowohl durch das Stadion als auch durch die klimatischen Bedingungen – das kann ihr nur zugutekommen.
SPORT1: Und wie beurteilen Sie das deutsche Sprintteam, speziell Gina Lückenkemper?
Drechsler: Gina ist in Deutschland derzeit konkurrenzlos, und auch auf europäischer Ebene gehört sie zu den Spitzenläuferinnen. Bei einer WM wird es für sie jedoch deutlich schwieriger, gerade im Sprint über 100 Meter. Ein Finaleinzug bei einer WM wäre schon ein großer Erfolg, da die Leistungsdichte weltweit enorm ist. Für die 4x100-Meter-Staffel sehe ich sogar Medaillenchancen, wenn die Übergaben stimmen und alle Athletinnen den Teamgeist mitbringen. Eine saubere Staffelarbeit kann im internationalen Vergleich entscheidend sein, und ich bin gespannt, wie sie das umsetzen werden.
Leichtathletik-WM: Stärkstes Team der letzten zehn Jahre
SPORT1: Lisa Mayer wird ihre letzte WM bestreiten. Wie bewerten Sie ihre Karriere?
Drechsler: Lisa war über viele Jahre hinweg konstant auf einem sehr hohen Niveau, auch wenn sie leider immer wieder durch Verletzungen ausgebremst wurde. Gerade im Sprint ist die Belastung extrem hoch, und kleine Probleme können große Auswirkungen haben. Trotzdem hat sie immer wieder Spitzenleistungen gezeigt und auch die Staffel enorm bereichert. Für mich persönlich ist es schade, dass sie nun ihren letzten großen Wettkampf bestreitet, aber ihre Karriere kann sich absolut sehen lassen.
SPORT1: Bei der WM 2023 in Budapest blieb Deutschland komplett ohne Medaille. Wie stark ist das Team jetzt aufgestellt?
Drechsler: Dieses Mal wirkt das Team deutlich besser aufgestellt. Wir haben junge Athletinnen und Athleten, die in ihren Disziplinen international konkurrenzfähig sind, und insgesamt spürt man, dass sich in den letzten Jahren einiges getan hat. Besonders interessant wird es im Langstreckenbereich, zum Beispiel bei den 3000-Meter-Hindernisläufern Frederik Ruppert und Karl Bebendorf. Dort ist zwar die Konkurrenz extrem stark, insbesondere aus Kenia und Äthiopien, aber wenn die Athleten ihr Rennen clever gestalten und mental stark bleiben, sind Top-Platzierungen durchaus möglich. Insgesamt würde ich sagen, dass wir eines der stärksten deutschen Teams der letzten zehn Jahre haben.
Drechsler: „Persönliche Bestleistungen extrem wichtig“
SPORT1: Auf welche deutschen Athletinnen und Athleten sind Sie außerdem gespannt?
Drechsler: Neben den bereits genannten sehe ich vor allem Julian Weber im Speerwurf als einen klaren Medaillenfavoriten. Seine Form in dieser Saison ist überragend, und er hat bewiesen, dass er auf internationalem Niveau konstant liefern kann. Aber auch in anderen Disziplinen – sei es im Marathon, im Sprint oder in technischen Wettbewerben – gibt es spannende Talente, auf die ich sehr neugierig bin. Gerade bei jungen Athletinnen und Athleten ist es interessant zu beobachten, wie sie mit dem Druck einer Weltmeisterschaft umgehen.
SPORT1: Wie wichtig sind Medaillen im Vergleich zu persönlichen Bestleistungen und Finalplätzen?
Drechsler: Medaillen sind natürlich ein wichtiger Maßstab, weil wir im internationalen Vergleich immer daran gemessen werden. Aber für die Athletinnen und Athleten selbst sind auch persönliche Bestleistungen enorm wichtig. Wer es schafft, seine beste Leistung genau zum richtigen Zeitpunkt abzurufen, kann stolz auf sich sein – auch wenn es nicht für eine Medaille reicht. Gerade in einem so eng besetzten Feld wie bei einer Weltmeisterschaft ist das ein enormer Erfolg und ein wichtiger Schritt für die weitere Karriere.
Drechsler verrät was für Top-Platzierung nötig ist
SPORT1: Der DLV-Vorstand Jörg Bügner hat vor zwei Jahren das Ziel ausgegeben, bis 2028 wieder in die Top 5 zu kommen. Wie realistisch ist das?
Drechsler: Hohe Ziele sind wichtig, sie motivieren. Gleichzeitig muss man realistisch bleiben: Es braucht eine solide Nachwuchsförderung, stabile Strukturen und gute Trainer, die ihre Erfahrungen weitergeben können. Talente brauchen eine Basis, auf der sie sich entwickeln können, und dazu gehört auch, dass sie langfristig unterstützt werden. Nur dann ist es möglich, die Spitzenleistungen zu erzielen, die für eine Platzierung in den Top 5 notwendig sind.
SPORT1: Wie wichtig ist die Einbindung von früheren Olympiasiegern und Weltmeistern?
Drechsler: Sehr wichtig. Sie können ihr Wissen und ihre Erfahrung weitergeben, sei es als Berater oder in der direkten Nachwuchsausbildung. Leider wird das häufig zu wenig genutzt. Es wäre sinnvoll, mehr systematisch zu fragen: Wer kann helfen, wer möchte Wissen weitergeben? Auch ehemalige Trainer, die vielleicht schon im Ruhestand sind, haben wertvolle Erfahrung, die nicht verloren gehen sollte. Das stärkt die Basis und hilft, Talente langfristig zu fördern.
SPORT1: Insgesamt – welche Erwartungen haben Sie für die WM in Tokio?
Drechsler: Ich erwarte spannende Wettkämpfe und großartige Leistungen. Die deutsche Mannschaft ist stark aufgestellt, und ich hoffe, dass viele ihre Leistung abrufen können. Natürlich hoffe ich auch auf die eine oder andere Überraschung – sei es in der Technik, im Sprint oder in den Langstreckendisziplinen. Insgesamt bin ich optimistisch, dass wir einige unserer Medaillenchancen nutzen und dass die jungen Athletinnen und Athleten wichtige Erfahrungen sammeln werden.