Mit ihren beiden zur Seite gerichteten Zöpfen und dem schüchternen Lächeln in dem weißen Anzug mit rotem Kragen sah Olga Korbut eigentlich nicht aus wie ein Weltstar.
Der Abstieg einer Olympia-Sensation
Und doch stieg die Turnerin aus der damaligen UdSSR bei den Olympischen Spielen 1972 in München mit drei Goldmedaillen und einmal Silber zur absoluten Heldin des internationalen Publikums auf.
Auch die deutschen Zuschauer verliebten sich in die Athletin der Sowjetunion. Die rund 10.000 Fans in der Olympiahalle flippten nach jeder Übung der damals 17-Jährigen aus.
Die Spiele von München sind seither untrennbar mit ihr, Schwimm-Dominator Mark Spitz, dem Terroranschlag oder Hürdenläufer John Akii-Bua verbunden. Korbut, am 16. Mai 1955 geboren, wird nun 70 Jahre alt - und hat einen steilen Abstieg hinter sich.
Korbut wurde in München zum Weltstar
Denn bereits mit 61 Jahren ließ die einstige Wunder-Turnerin laut einem US-Auktionator zwei ihrer Goldmedaillen, Olympia-Silber sowie weitere Gegenstände für mehr als 300.000 Euro versteigern. Gold aus dem Schwebebalkenwettkampf 1972 konnte sie nicht mehr zu Geld machen. Das Edelmetall wurde ihr Jahre zuvor gestohlen.
Russische Medien berichteten von großen Geldsorgen. Korbut reagierte mit deutlichen Worten auf die Berichte und bezeichnete sie als „fake“. Vielmehr begründete sie die Verkäufe mit einer Erfüllung des Lebenstraums. „Ich möchte einen großen Garten anlegen, um das Wetter zu genießen.“
Doch die Gerüchte über eine knappe Kasse konnte sie nie vollends ausräumen. Und das einstige Wunderkind hat neben den offensichtlichen Geldsorgen einige Rückschläge in den vergangenen 30 Jahren verarbeiten müssen.
Sie blickt auf zwei gescheiterte Ehen zurück, ihre Mutter starb infolge der Tschernobyl-Katastrophe 1994 an Krebs und ihr einziger Sohn saß Anfang des Jahrtausends wegen Geldwäsche für mehr als drei Jahre im Gefängnis.
Von solchen Problemen war Korbut damals in München zwischen dem 27. August und dem 1. September ganz weit entfernt. Federleicht schwebte sie durch die Halle und wurde von den Zuschauern angehimmelt. Kurzerhand wurde sie aufgrund ihrer 1,53 Meter Körpergröße und 38 Kilogramm und in Anlehnung an ihre Geburtsstadt als „Spatz von Grodno“ getauft.
Korbut-Flip mittlerweile verboten
An die Teenagerin kam damals niemand heran. Am Boden, auf ihrem geliebten Schwebebalken und im Team-Mehrkampf sahnte die selbsternannte „Mutter des Turnens“ Gold ab. Doch es gab weitere historische Momente.
Am Stufenbarren verblüffte Korbut mit einem neuen spektakulären und waghalsigen Salto und holte Silber. Der „Korbut-Flip“ war so gefährlich, dass er mittlerweile längst wieder verboten ist.
Und dann gab es noch das große Drama im Einzel-Mehrkampf. Alle rechneten mit einem weiteren Triumph. Doch die Übung am Stufenbarren ging komplett schief und sie wurde Siebte. Da weinte Korbut bitterlich - und ganz München litt mit.
Doch das Mitgefühl berührte die Übersportlerin. „An Medaillen und Titeln bin ich nicht interessiert. Ich brauche sie nicht. Ich brauche die Liebe des Publikums, und dafür kämpfe ich“, sagte sie später einmal.
Vier Jahre später war Korbut schon nicht mehr unantastbar. Sie legte nur eine weitere Goldmedaille in Montreal nach. Schon 1977 mit nur 22 Jahren hatte Korbut genug und trat ab.
Die Sportwelt war zunächst geschockt. Doch Korbut hatte gute Gründe für diesen drastischen Schritt, wie sie erst Jahrzehnte später verriet.
Korbut wurde schwer misshandelt
Als die „Metoo”-Bewegung nach den Vorwürfen gegen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein ins Rollen kam, da ergriff überraschend auch die Ex-Turnerin das Wort. Vor der Abreise nach München im August 1972 hätte ihr langjähriger Trainer Ronald Knisch sie in Minsk missbraucht. Der Coach habe sie „als Sportmaschine und Sexsklavin gehalten“.
Knisch stritt alles ab. Zu einer strafrechtlichen Verfolgung kam es nie.
Trotz der kurzen Laufbahn hinterließ Korbut nach ihrem Abtritt einen völlig neuen Sport. Denn fortan und bis heute dominierten biegsame und federleichte jüngere Athletinnen.
Der große Einfluss des „Spatz von Grodno“ wurde immer wieder gewürdigt. 1988 wurde Korbut als erstes Mitglied in die Hall of Fame des Turnens aufgenommen und war fünf Jahre lang das einzige Mitglied.
Korbut lebt seit 1991 in den USA
Als Wachsfigur hat die Tochter eines Ingenieurs und einer Köchin im Berühmtheiten-Kabinett von Madame Tussaud in London einen Platz, die US-Zeitschrift „Sports Illustrated“ zählte sie zu den 40 wichtigsten Sportlern der Geschichte.
Seit 1991 lebt Korbut in Arizona in den USA und hat dort eine Turnschule. Bei der Auswahl von Talenten war sie sehr wählerisch. „Wenn die Kinder nur turnen, um die Eltern zufriedenzustellen, macht es keinen Sinn“, sagte die Ausnahmeturnerin einmal.
Eine Turnerin, die in ihre Fußstapfen hätte treten können, hätte sie wohl ohnehin nicht hervorbringen können.