Die Karriere von Kristina Vogel hätte kaum erfolgreicher verlaufen können. Als Sprinterin dominierte Vogel die Radbahnen der Welt und wurde durch zwei olympische Goldmedaillen sowie 17 Weltmeistertitel auf Elite- und Juniorenniveau zur erfolgreichsten Bahnradsportlerin der Geschichte.
"Es stand 50:50, ob ich überlebe oder sterbe"
Vogel blickt auf Schicksalstag zurück
Doch auf dem absoluten Höhepunkt wurde Vogel im Juni 2018 durch einen Trainingsunfall aus ihrer Karriere gerissen. „Bei uns ging die Olympia-Qualifikation los, die dauert im Radsport über zwei Jahre und ich habe mich auf den ersten Qualifikationswettkampf vorbereitet“, erklärte die 34-Jährige im Podcast Wie geht’s? mit Robin Gosens. Was folgte, war ein folgenschwerer Trainingsunfall, der bei Vogel zu einer Querschnittslähmung führte.
Bei einer Trainingsübung wollte Vogel aus dem Windschatten ihrer Partnerin zum Sprint ansetzen. Das Problem: Genau wie im Straßenverkehr gibt es auch auf der Bahn Regeln. Darunter auch solche, die bestimmen, dass während entsprechender Übungen keine stehenden Trainingsprogramme wie Anfahrtsübungen auf der Gegengerade ausgeführt werden dürfen. Eine Regel, die am Tag des Unfalls missachtet wurde.
Vogel: „Mit über 60 km/h frontal in ihn reingeknallt“
„Das Problem ist, wenn wir sehr aerodynamisch fahren, sieht man fast nichts. Vielleicht ein bis zwei Meter vor dir und das wars“, erklärte Vogel. Offenbar wurde ihr genau dies auf dem Fahrrad beim Training in Cottbus zum Verhängnis. „An dem Tag war es so, dass die vor mir Fahrende fährt, sie schert aus, ich gehe in den Wind und da stand auf einmal jemand, der dort nicht hätte stehen dürfen“, sagte Vogel und schilderte: „Ich konnte nichts sehen und bin mit über 60 km/h frontal in ihn reingeknallt.“
Wie gravierend der Unfall gewesen war, habe auch Vogel unmittelbar wahrgenommen. „Ich war ein paar Sekunden bewusstlos und als ich dann wachgeworden bin war klar, es ist irgendetwas ganz Krasses passiert“, erinnert sich die Deutsche mit kirgisischen Wurzeln, auch wenn sie an den Moment des Aufpralls keine Erinnerungen mehr habe.
„Was mich auch wundert, normalerweise kennt das jeder, wenn man stolpert, dann springt man sofort auf und guckt: Hat das jemand gesehen? Und sind Kopf, Hände und Füße noch alle dran“, meinte Vogel. Stattdessen habe sie jedoch nie den Willen verspürt, aufzustehen. „Ich bin einfach liegen geblieben.“
Aufgrund der höheren Komplexität der Ausrüstung, insbesondere der Schuhe, habe Vogel den Unfallhelfern sofort mitgeteilt, wie man diese lösen könne. Allerdings habe sie daraufhin miterlebt, „wie mein Unfallhelfer diesen Schuh in seinen Händen hatte und weg ging, also meinen Körper verließ. Ich dachte, warte mal kurz, ich habe das gar nicht gemerkt.“ Von diesem Moment an sei ihr klar gewesen: „Dann muss der Unfall so schlimm sein, dass ich nie wieder laufen werde.“
Welche Auswirkungen dieser Unfall auf ihre Zukunft haben werde, teilte Vogel ihrem heutigen Verlobten demnach schon vor der Verkündung der Diagnose mit. „Ich wusste in der Sekunde, egal was mit mir passiert ist, die Kraft in den Leistungssport zurückzukehren, die habe ich heute nicht mehr“, beschreibt Vogel ihre Gedanken.
„Es stand 50:50, ob ich überlebe oder sterbe“
Nach dem komplizierten Transport in ein Berliner Krankenhaus und der Diagnose Querschnittslähmung habe man ihr erklärt, dass sie sechs bis zwölf Monate im Krankenhaus bleiben müsse, „aber wenn ich hart arbeite, werde ich irgendwann selbstständig leben können, weil ich noch die komplette Armfunktion habe“. Während sich die Olympiasiegerin von 2016 bereit machte, das Krankenhaus nach sechs Monaten schnell zu verlassen, sollte der Prozess jedoch nicht so leicht werden. „Am Ende stand es 50/50, ob ich überlebe oder sterbe, weil noch viele andere Verletzungen dazu kamen“, erklärte Vogel.
Bereits im Jahr 2009 war Vogel einer Querschnittslähmung nur knapp entkommen, nachdem ihr im Straßenverkehr auf dem Fahrrad die Vorfahrt genommen wurde und sie in die Scheibe eines Autos hineinkrachte. Damals sei sie auch aufgrund der Vorsicht der Ersthelfer trotz zahlreicher schwerer Verletzungen und zwei Tagen im künstlichen Koma einer Lähmung entkommen und habe sich schnell wieder auf den Sport fokussiert. „Frage eins war in welchem Krankenhaus ich liege, Frage zwei war, ob meine Steuererklärung schon gemacht war. Und Frage drei war, ob ich ein neues Fahrrad bekomme?“, meinte Vogel und führte aus: „Das ist, warum Leistungssportler echt einen Knall haben. Du stirbst fast, aber sagst: ‚Warte mal, die WM ist ja jetzt bald. Ich muss irgendwie fahren.‘“
Nach der Diagnose, die ihr Leben nach 2018 auf den Kopf stellen sollte, habe Vogel zunächst ihre persönliche Einstellung geholfen. „Ich würde immer gerne etwas Krasses erzählen, aber das kann ich gar nicht. In solchen Momenten bin ich so unfassbar objektiv und pragmatisch, dass ich einfach nur die Fakten sehe“, meinte die Erfolgssportlerin. „Für mich war es nie ein Punkt von Traurigkeit, Wut oder dem Gedanken verdammt, mein Leben ist vorbei.“
Vogel gesteht mentale Probleme ein
Dennoch wäre es in den Monaten danach auch besser gewesen, versöhnlicher mit sich selbst zu sein und weniger wie eine Maschine zu funktionieren, berichtete Vogel. „Ich hatte auch Momente, wo ich verzweifelt war, wo es auch sehr schwer war. Die Diagnose und was es auch heißt, als behinderte Frau durch die Welt zu rollen, ist auch etwas, das natürlich Angst macht“, erklärte sie.
Außerdem gestand die Serienweltmeisterin, bereits während ihrer Karriere mit psychischen Problemen zu kämpfen gehabt zu haben. „2018 war ich die erfolgreichste Radsprinterin der Welt, aber mental war ich am Boden. Ich war kurz vor einem Burn-Out“, gestand Vogel und offenbarte: „Beim letzten WM-Titel bin ich über die Ziellinie gefahren und hätte mich freuen können, aber ich dachte eher: ‚Zum Glück habe ich es allen bewiesen.‘“ So habe sie auch nach dem Unfall mit dem für sie damals peinlichen Gedanken gekämpft: „Dass andere um mich getrauert haben, dass ich anderen Schmerzen bereitet habe, nur weil ich Dumme nicht Fahrrad fahren kann.“
Heute blickt die ehemalige Spitzensportlerin reflektiert auf ihre Karriere zurück und bereut diese nicht mehr genossen zu haben. So erklärte Vogel abschließend: „Es hört sich so schwarz und traurig an, obwohl ich eine fantastische Zeit im Leistungssport hatte. Ich habe jeden Kontinent in meinem Reisepass. Ich war privilegiert, dass ich die Welt gesehen habe und Freunde auf der ganzen Welt habe. Ich habe unfassbar tolle Erfolge. Welcher Leistungssportler kann denn sagen, dass er so lange ungeschlagen war?“
So haben die Auswirkungen des Unfalls auch eine Last von Vogel gelöst. „Es war, als hätte mir jemand einen Stein von den Schultern geholt. Ich habe mich so befreit gefühlt, niemandem mehr etwas beweisen zu müssen.“