Am legendären Mont Ventoux kam es in einem spektakulären Einzelzeitfahren zu seiner angekündigten Revanche. Sein großer Kontrahent war zwei Minuten vor ihm gestartet, doch an diesem Tag hatte er Charly Gaul nichts entgegenzusetzen.
Tour de France: Das Mysterium um den Engel der Berge
Der Engel der Berge, der tief fiel
Getrieben vom Gedanken an das, was knapp ein Jahr zuvor passiert war, jagte der nur 1,73 Meter kleine Kletterspezialist dem großen Franzosen Louison Bobet hinterher, fuhr mühelos auf ihn auf und strafte ihn mit überlegenen Blicken.
„Für Bobet sind es endlose Sekunden der Demütigung, denn Charlys triumphierenden Blicke sagen mehr als Worte“, schreibt der Tour-Historiker Hans Blickendörfer später.
Es war der womöglich entscheidende Fingerzeig hin zum ersten Triumph eines reinen Kletterspezialisten bei der Tour de France, den Charly Gaul schließlich am 19. Juli 1958, heute vor 67 Jahren, perfekt machte.
Tour de France: Der Engel der Berge schreibt Geschichte
Der „Engel der Berge“, wie er wegen seiner zarten Gestalt (nur knapp über 60 Kilogramm) und der Leichtigkeit seiner Fahrweise genannt wurde, war auf dem Thron des Radsports angekommen.
Die Vorgeschichte für den historischen Coup lieferte dabei der Giro d’Italia ein Jahr zuvor. Gaul musste bei einer Etappe dringend seine menschliche Notdurft verrichten und stellte sein Rad an einem Baum für eine Pipi-Pause ab, was seine beiden größten Rivalen Raphael Gérminiani und der bereits erwähnte Louis Bobet gnadenlos ausnutzten und zehn Minuten auf ihn herausfuhren.
Gaul wurde fortan „Cheri-Pipi“ genannt – und tobte vor Wut. „Vergesst nicht, dass ich Metzger gelernt habe. Ich ziehe Eurem Bobet die Haut ab“, sollt er damals gewettert haben.
Was er schließlich im übertragenen Sinne am Mont Ventoux tat, ehe er dann auch Géminiani auf der 21. Etappe in strömendem Regen entscheidend Zeit abnahm – und seine sportliche Rache vollendete.
Es war nicht der einzige große Erfolg in der Karriere Gauls, der in seiner Heimat Luxemburg zum Jahrhundertsportler gewählt wurde. So gewann er unter anderem auch den Giro d’Italia in den Jahren 1956 und 1959.
„Niemals musste ein Fahrer mehr Schmerzen ertragen“
Besonders der Giro 1956 trug maßgeblich zu seinem Mythos bei. Am 9. Juni 1956 ging er nach einem Sturz am Vortag mit 24 Minuten Rückstand auf den Gesamtführenden auf die letzte schwere Bergetappe.
Es sollte eine Etappe unter brutalsten Bedingungen werden, die heute niemals gefahren werden würde.
Regen, Hagel und eisiger Wind machten den Fahrern, die damals nur ein Wolltrikot und keine Regenjacken trugen, extrem zu schaffen. Am Anstieg des Bondone sahen sie sich dann auch noch einem Schneesturm mit Minusgraden ausgesetzt, der über 60 (!) Fahrer zum Aufgeben zwang. Gaul aber ließ sich nicht beirren, fuhr alleine durch den Schnee und übernahm sensationell das Rosa Trikot. Später wird sich erzählt, man hätte Gaul im Hotel sein Trikot zerschneiden müssen, weil es an seiner Haut festgefroren war.
„Niemals musste ein Fahrer mehr Schmerzen, Angst und Erschöpfung ertragen. An diesem Tag wurde alles übertroffen, was wir bis dahin an Schmerzen und Leidensfähigkeiten gesehen haben“, schrieb Tour-Organisator Jacques Goddet später in der L’Equipe.
All diese Geschichten trugen zur Popularität des Engels der Berge bei, der während seiner Karriere ein Star und Frauenmagnet war. Über 50 Fanbriefe soll er auf dem Höhepunkt seines Ruhmes erhalten haben.
Charly Gaul fällt in ein tiefes Loch
Doch all die Erfolge und die Popularität änderten nichts daran, dass Gaul nach seiner Karriere in ein tiefes Loch fiel. 1965 hatte er mit seiner zweiten Frau ein Café in der Nähe des Luxemburger Hauptbahnhofs eröffnet, verfiel Erzählungen nach aber dem Alkoholismus, hatte mit Leere nach dem Sport zu kämpfen und entschloss sich ein halbes Jahr später zu einem drastischen Schritt.
Gaul zog sich komplett aus der Öffentlichkeit zurück und soll der Legende nach fast zwei Jahrzehnte als Einsiedler in einem Wohnwagen in den luxemburgischen Wäldern gelebt haben. Ohne Strom und fließend Wasser und nur in Begleitung seines Hundes schlug er sich durchs Leben und soll jeden Tag dieselbe Kleidung getragen haben. Näherten sich Journalisten oder Neugierige, wurden diese schroff wieder in die Zivilisation geschickt.
Was genau in dieser Zeit geschah, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben, Gaul selbst hat nie ein Wort über sein Verschwinden verloren. Fakt ist aber, dass er 1989 auf die große Bühne zurückkehrte. Gemeinsam mit seiner Tochter Fabienne, die er mit seiner dritten Frau Josée bekam, folgte er einer Einladung der Tour de France.
„Ich kannte Ihn nur aus Büchern und von Fotos, bis ich ihn 1989, als die Tour in Luxemburg das erste Mal begann, kennenlernte. Die Luxemburger haben ihn damals dankenswerterweise eingebunden in die Veranstaltung. Damals hat Gaul die Tour gewissermaßen neu entdeckt“, sagte Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc, der die „große Höflichkeit, die Bescheidenheit und Toleranz“ der Rad-Legende hervorhob.
Charly Gaul starb am 6. Dezember 2005 an den Folgen einer Lungenembolie.