Es war ein Stück deutsche Tour-Geschichte, das sich an diesem 17. Juli hinauf nach Hautacam abspielte. Beim Husarenritt von Topfavorit Tadej Pogacar zurück ins Gelbe Trikot setzte Florian Lipowitz ein massives Ausrufezeichen – eines, das nachwirken sollte.
Tour de France: Deutschland hat wieder eine echte Tour-Hoffnung
Der „wie entfesselt fahrende Deutsche“
Denn wie der 24 Jahre alte Tour-Debütant auf der 12. Etappe in den Pyrenäen nicht nur seinen eigenen Kapitän Primoz Roglic vom Team Red Bull-Bora-hansgrohe stehen ließ, war ein klares Zeichen, wie es um die Kräfteverhältnisse im deutschen Team tatsächlich bestellt ist.
Tour de France: Lipowitz holt fast noch Vingegaard ein
Am Ende des Tages war es Lipowitz, und nicht etwa Mitfavorit Jonas Vingegaard oder gar Olympiasieger Remco Evenepoel, der hinter Etappensieger Pogacar den besten Eindruck machte und sich klar für einen Platz auf dem Tour-Podium in Stellung brachte.
Während sich der von Pogacar im Schlussanstieg regelrecht demontierte Vingegaard gerade noch vor dem „wie entfesselt (letour.fr) fahrenden Deutschen ins Ziel rettete (zwölf Sekunden trennten die beiden), hatte Evenepoel schon beim ersten von drei schweren Anstiegen große Probleme und büßte über eine Minute seines Vorsprungs auf Lipowitz ein, der jetzt schon Vierter im Gesamtklassement ist.
Wurde Lipowitz zu spät von der Leine gelassen?
Und dabei wirkte es noch so, als wäre er sogar noch mit angezogener Handbremse gefahren. Der Plan sei gewesen, „dass Primoz und ich beide offene Karten haben. Jeder durfte am letzten Anstieg was probieren“, sagte Lipowitz nach der Etappe im ARD-Interview zwar, im Berg war aber schon klar zu sehen, dass der Deutsche die deutlich bessere Form hatte.
Mehrfach schaute er sich nach seinem Kapitän um, schien zu warten, selbst als dann eine Lücke aufging, „bin ich hinter Oscar (Onley, Anm. d. Red.) geblieben, falls Primoz wieder zurückkommt“, berichtete der Laichinger. Erst fünf Kilometer vor dem Ziel wurde er wirklich von der Leine gelassen. „Dann habe ich meine Chance genutzt, nochmal attackiert - und dann bis zum Ziel Vollgas“, kommentierte der deutsche Shootingstar seine beeindruckende Fahrt.
Lipowitz habe nicht auf Roglic warten müssen, erklärte Red Bulls Sportdirektor Rolf Aldag im Nachgang, stattdessen sei es darum gegangen, „gemeinsam Evenepoel fernzuhalten“. Als dann aber „halt klar war, Lipo hat die Beine, dann gab es auch das Go“, bestätigte der Team-Verantwortliche dann doch eine entsprechende Order.
Von einem taktischen Fehler wollte der Ex-Teamkollege des deutschen Tour-Siegers Jan Ullrich aber nichts wissen: „Jaja, vielleicht hätte er sich einen Hungerast eingefangen und wäre mit vier Minuten Rückstand eingekommen. ‚Hätte, hätte Fahrradkette‘ gibt es bei uns im Sport halt nicht. Oben wird abgerechnet und mit dem Ergebnis sind wir zufrieden.“
Nachdem Roglic schon im Vorfeld angekündigt hatte, dass Lipowitz ihn durchaus als Nummer 1 im Red-Bull-Team ablösen könnte, schrie am Donnerstag der komplette Auftritt danach, dass die Zeit für die Wachablösung genau jetzt gekommen ist.
„Er hatte die Beine heute“, musste auch Rogic, der als Zweiter 2020 sein bestes Tour-Ergebnis erreicht hat, anerkennen und gestehen: „Es war deutlich zu schnell für mich. Ich habe gemerkt, dass es nicht reicht“.
Die Zeit für Lipowitz ist jetzt gekommen
Lipowitz selbst gab sich diplomatisch auf die Frage, ob er jetzt der neue Kapitän sei. Man müsse das „in Ruhe mit dem Team besprechen“ und „einen Plan für die nächsten Tage“ machen: „Es kommen noch viele harte Etappen.“
Aldag lobte die „herausragende Leistung von Florian“, wollte sich darüber hinaus aber nicht in die Karten schauen lassen. „Es macht keinen Sinn, sich festzulegen, denn das würde uns ausrechenbar machen. Es wäre dämlich zu sagen, wir legen uns auf einen fest“, sagte der Ex-Profi über die Kapitänsfrage.
Nachdem Lipowitz aber schon beim Critérium du Dauphiné als Gesamtdritter hinter Pogacar und Vingegaard auftrumpfte und auch jetzt wieder eine klar bessere Form zeigt als Roglic, führt an ihm eigentlich kein Weg vorbei.
„Die Dauphiné war sehr gut, Weltspitze eigentlich“, lobte Bora-Teamchef Ralph Denk und verriet, dass der Plan bei Lipowitz eigentlich war, „dass die Dauphine sein Saison-Höhepunkt ist. Dass er den jetzt so verlängert von der Form her, zeigt, wie groß sein Motor ist.“ Hierzulande schürt ein Auftritt wie der von Lipowitz natürlich den Traum vom ersten deutschen Podiumsplatz seit den durch Doping überschatteten Jahren von Ullrich und Andreas Klöden.
„Wir wollen Paris auf dem Podium erreichen und da sind wir ein Stück näher gekommen. Es ist aber noch ein ewig weiter Weg. Rom wurde auch nicht an einem Tag gebaut“, sagte Aldag – die beste Chance gibt Red Bull-Bora-hansgrohe aktuell Lipowitz, bei dessen Gala es noch einen weiteren spannenden Aspekt gibt.
Braucht Red Bull Evenepoel überhaupt?
Denn gerüchteweise baggert sein Rennstall an Olympiasieger Evenepoel – den Lipowitz am Donnerstag klar distanziert hat. Braucht man den Belgier also überhaupt, wenn man doch schon einen deutschen Hoffnungsträger im Stall hat?
„Stand heute kann man das so sehen“, sagte Denk, attestierte Evenepoel aber auch eine „großartige Leistung“ und betonte: „Er steht bei Soudal-Quickstep unter Vertrag, da hat er noch ein Jahr, und dann werden wir schauen.“
Den Druck auf Lipowitz will man beim Team nicht zu groß werden lassen. „Wir haben immer gesagt, wir geben ihm Zeit, wir geben ihm Ruhe und ich würde auch immer noch darum bitten, dass wir ihn jetzt nicht als Tour-Sieger feiern“, bremste Aldag den Hype: „Wir sind noch lange nicht da und haben noch ganz viel Hitze, Schweiß und Berge vor uns.“
„Na klar wollen wir aufs Podium, aber selbst wenn er ‚nur‘ Top 10 macht, ist es auch ein riesiger Erfolg für einen jungen Rennfahrer. Da ist Potenzial da und das wollen wir als Team ausbauen“, versicherte der Teamchef und blickte auf einen kuriosen Umstand zurück – fast wäre der deutsche Tour-Shootingstar nämlich gar nicht bei seinem Team geblieben!
„Ich kann mich noch gut erinnern, als es 2022 die Diskussionen gab: Geben wir ihm einen Vertrag? Da waren wir nicht einstimmig, aber schlussendlich haben wir es gemacht und es war die richtige Entscheidung – aber eine mutige Entscheidung.“
Diesen Mut hat Lipowitz schon jetzt eindrucksvoll belohnt – und ein Versprechen für die Zukunft gegeben. Deutschland hat wieder eine Tour-Hoffnung! Ob schon in diesem Jahr das Podium drin ist? „Jeder darf alles träumen. Aber wir konzentrieren uns weiter auf die Arbeit“, sagte Aldag: „Zu Vingegaard war es heute nicht mehr so weit, aber wir sind noch lange nicht da – wir haben noch ganz viel Hitze, ganz viel Schweiß vor uns.“