Vor exakt 53 Jahren feierte Luis Ocaña am 22. Juli 1973 seinen größten Triumph: den Gesamtsieg bei der Tour de France.
Der Tour-Sieg, der nicht heilte
Der Spanier galt als Genie auf dem Rad – ehrgeizig, kompromisslos, furchtlos. Doch seine Geschichte war auch eine von tiefen Abstürzen, Rückschlägen, tragischen Wendungen - und einem beklemmenden Ende.
Ein Junge, der nichts hatte
Geboren 1945 im armen spanischen Dorf Priego als Sohn eines Waldarbeiters, floh Ocañas Familie früh nach Frankreich – politisch verfolgt unter Francos Regime, mittellos, ohne Perspektive.
Schon als Kind litt er an Tuberkulose und schwachen Lungen. Mit 13 Jahren musste er die Schule abbrechen, um als Erntehelfer zu arbeiten. Sein Vater hielt ihn für zu schwach für den Sport – doch Ocaña trat dem örtlichen Radsportverein bei. Auf dem Rad fand er das, was ihm im Leben oft fehlte: Kontrolle und Freiheit.
Sein Talent war unübersehbar. Er fuhr zunächst für das spanische Team Fagor, später für das französische BIC-Team – dort wurde er zur Persönlichkeit. 1970 gewann er die Vuelta a España, obwohl ihm die Streckenführung ohne langes Zeitfahren eigentlich nicht lag. „Ocaña hatte den Charakter, die Wut, den Hunger eines Mannes, der Hunger erlebt hat“, sagte sein größter Konkurrent Eddy Merckx einst über ihn. Und genau dieser Hunger trieb ihn an.
Tour 1971 - Als Ocaña die Radwelt zum Staunen brachte
Die Tour de France 1971 wurde zur Bühne für das wohl dramatischste Duell dieser Ära. Ocaña griff in der elften Etappe nach Orcières-Merlette an – auf den letzten 60 Kilometern fuhr er wie entfesselt und nahm Merckx 8 Minuten und 42 Sekunden ab. Ein historischer Ritt, der ganz Frankreich elektrisierte. Man hatte das Gefühl: Dieses Jahr wird er den „Kannibalen“ stürzen.
Doch dann kam die 14. Etappe – von Revel nach Luchon, über den Col de Menté. Das Wetter kippte, ein Unwetter legte sich über die Pyrenäen. Regen, Sturzbäche, Blitze. Auf der Abfahrt stürzte Merckx – Ocaña hinter ihm konnte nicht mehr ausweichen, wurde von Joop Zoetemelk gerammt und krachte in einen Graben. Während Merckx weiterfahren konnte, musste Ocaña verletzt aufgeben.
Unvergessen - „Dieser Sieg gehört nicht mir“
Merckx übernahm wieder das Gelbe Trikot – doch aus Respekt zog er es nicht an. „Dieser Sieg gehört nicht mir“, sagte er. Noch am selben Abend ließ er das Trikot an Ocañas Krankenbett liefern.
Zwei Jahre später folgte die Erlösung: Am 22. Juli 1973 gewann Ocaña, der seinen Hund spöttisch „Merckx“ nannte, endlich die Tour de France – überlegen, mit fast 16 Minuten Vorsprung. Doch sein größter Widersacher war nicht dabei.
Ocaña hatte sich nach einem fairen Kampf gesehnt. Auch wenn es wie ein Scherz klang – der Respekt war da: „Er war ein unglaublicher Gegner“, erinnerte sich Merckx. Und ergänzte: „Mit ihm war es immer ein gnadenloser Kampf.“
Tragischer Ruhestand
Nach dem Tour-Sieg 1973 aber verblasste Ocañas Karriere schnell. Beim niederländischen Team Frisol beendete er seine Tour-Geschichte als 25. Danach folgten Rückschläge – sportlich, gesundheitlich, menschlich.
1979 stürzte er während eines Ruhetags bei der Tour – beim Aussteigen aus einem Auto fiel er in eine Schlucht. Er brach sich den Arm, den Kiefer, verlor das Gehör auf einem Ohr und kämpfte fortan mit Sehproblemen. Wenig später wurde er bei einem Verkehrsunfall schwer am Bein verletzt.
Ocaña zog sich zurück, widmete sich seinem Weingut in Frankreich. Doch 1983 zerstörte ein Unwetter seine komplette Ernte. Die Existenzgrundlage war weg.
Er versuchte sich als Berater des kolumbianischen Nationalteams – doch die Rolle lag ihm nicht. „Ich war bereit, alles zu geben – oder dabei unterzugehen“, hatte er einst über seine Fahrweise gesagt. Im Ruhestand schien er diesen Kampf verloren zu haben.
Den Kampfgeist auf dem Rad hatte er – fürs Leben nicht mehr
In einem Krankenhaus infizierte er sich mit Hepatitis B. Die Infektion ging in Leberkrebs über. Als er die Diagnose erhielt, verlor er die Kraft zum Weiterkämpfen.
Am 19. Mai 1994 erschoss sich Luis Ocaña auf seinem Anwesen in Caupenne d’Armagnac. Er wurde nur 48 Jahre alt. Fünf Tage später wurde ihm in der Kapelle Notre-Dame des Cyclistes ein Fenster aus Buntglas und eine Gedenkplatte aus grünem Marmor gewidmet. Ein stilles Denkmal für einen gefallenen Helden des Radsports.
„Es ist nicht so, dass ich heute unglücklich bin“, sagte Ocaña einmal über das Leben nach der Karriere. „Aber es wird mir niemals die Gefühle und Emotionen geben, die ich auf dem Rad erlebt habe.“