Fast alle Experten waren sich vor dem Start der Tour de France einig: Die Teams der beiden Top-Favoriten, Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard sind in etwa gleich stark. Folgerichtig werde der stärkere Kapitän am Ende das Rennen machen. Nach zehn absolvierten Etappen sieht die Sachlage aber ganz anders aus.
Ullrich befürchtet Schlimmes für Pogacar
Zwar verteidigte Pogacar auf der ersten Bergetappe seinen Vorsprung von 1:17 Minuten auf seinen schärfsten Konkurrenten Vingegaard - das Gelbe Trikot des Gesamtführenden musste der Titelverteidiger aber am Montag mit 29 Sekunden Rückstand an Ben Healy abgeben. Doch ein ganz anderer Verlust wiegt womöglich noch schwerer.
Während das Vingegaard-Team Visma-Lease a Bike bislang keine Ausfälle zu beklagen hat, muss Pogacar seit dem Wochenende auf seinen Edelhelfer verzichten. Die Rede ist von Joao Almeida - den zweitbesten Bergfahrer im Team UAE – Emirates – XRG.
Verlust von Almeida könnte „rennentscheidend“ sein
Folgerichtig war der Sturz des Portugiesen auch eines der großen Themen im Podcast ULLE & RICK von Jan Ullrich und Rick Zabel.
„Das ist schon heftig. Almeida war der absolut beste Helfer in den Bergen für Pogacar. Das tut richtig weh und das werden wir in den Bergen und bei den Königsetappen auch noch sehen”, ist Ullrich überzeugt.
„Das könnte sogar rennentscheidend sein“, geht Zabel sogar noch einen Schritt weiter. Almeida sei derjenige gewesen, der immer „an der Seite von Pogacar gewesen“ ist und „Löcher zufahren“ konnte.
Durch den Ausstieg sieht Zabel einen klaren Vorteil für Vingegaard. „Mit der neuen Situation wird es auf den Hochgebirgsetappen so sein, dass Vingegaard immer Jorgenson an seiner Seite hat und er (Pogacar) alleine sein wird“, prophezeite er.
Zwar merkte Ullrich an, dass auch noch Adam Yates und Marc Soler an der Seite von Pogacar sind, jedoch sei „Yates beim Giro auch nicht der Beste am Berg gewesen“. Beim Briten fehlen Ullrich zufolge „ein paar Prozent“, was auch ihm zufolge „rennentscheidend“ sein könne. „Da wird Tadej geschluckt haben“, ist sich Ullrich sicher.
Pogacar entscheidend geschwächt? „War traurig und nachdenklich“
Pogacar scheint sich auch selbst absolut im Klaren darüber zu sein, dass das Fehlen von Almeida noch enorm schmerzhaft werden könnte.
„Im Siegerinterview war er richtig traurig und nachdenklich. Das allererste was er gefragt hat, war, ob Almeida gut ins Ziel gekommen ist. Das war ihm wirklich total wichtig, auch menschlich“, schilderte Ullrich.
Almeida war auf der siebten Etappe böse zu Fall gekommen. Trotz eines Rippenbruchs absolvierte er den achten Abschnitt, musste jedoch am Sonntag auf der neunten Etappe vorzeitig kapitulieren.
„Das war ein richtig schwerer Sturz. Da geht es mir immer durch Mark und Bein. Das ist immer heftig, da sieht man, wie im Radsport um jeden Zentimeter gekämpft wird“, erläuterte Ullrich mit einem Schaudern.
Armstrong stimmt zu: „Kann das Ganze beeinflussen“
Der Tour-Sieger aus dem Jahr 1997 weiß aus seinen vielen Duellen mit Lance Armstrong natürlich genau, wie wichtig es ist, seine besten Helfer beisammen zu haben. Der US-Amerikaner schlug derweil in eine ähnliche Kerbe.
„Pogacars bester Lieutenant, sein bester Kletterer ist draußen: Das könnte die größte Geschichte dieser Etappe gewesen sein für das Gesamtklassement. Das kann das große Ganze beeinflussen“, verdeutlichte Armstrong in seinem Podcast The Move.
Sein damaliger Edelhelfer George Hincapie stimmte dem zu und schwärmte gleichzeitig vom Vingegaard-Team. „Schauen wir auf Simon Yates, auf Matteo Jorgenson, auf Sepp Kuss - all die Weltklasse-Kletterer, die Jonas in der Hinterhand hat“, zählte er auf. „Oh ja, Visma ist stärker dieses Jahr“, ist sich auch Armstrong sicher.
Pogacar hat noch kein Ruhekissen
Zwar hat Pogacar Vingegaard bislang auf allen Etappen im Griff gehabt und im Zeitfahren viel Zeit herausgefahren. Jedoch zeigten sich viele Experten überrascht, dass der Däne bislang an den kurzen und knackigen Anstiegen den Attacken des Slowenen recht souverän folgen konnte.
Und Visma-Lease a Bike zeigte sich auch auf der ersten Bergetappe am Montag angriffslustig, setzte Pogacar und dessen ersatzgeschwächte Mannschaft mit einigen Attacken immer wieder unter Druck. Zwar konnte Pogacar die Angriffe abwehren, aber die nächsten Tage dürften spannend werden.
Zumal Vingegaard als Fahrer gilt, der es sehr gut versteht, mit seinen Kräften über drei Wochen hauszuhalten. Zudem lauert noch Remco Evenepoel, der in der Gesamtwertung nur eine Minute Rückstand auf Pogacar hat, auf seine Chance. Aber vorerst schlüpfte Healy ins Gelbe Trikot.