Die letzten Meter der sechsten Etappe der Tour de France nach Vire in der Normandie waren noch einmal äußerst anspruchsvoll. Aber Florian Lipowitz hatte sich offenbar etwas Kraft übrig gelassen. Kurzzeitig führte der 24-Jährige das Hauptfeld mit den großen Namen des Gesamtklassements, darunter Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard, sogar an, als es steil bergauf ging.
Tour de France: Fünf Sekunden, die alles verändern könnten
Schlägt jetzt seine Stunde?
Zu diesem Zeitpunkt hatte der gefeierte Tagessieger Ben Healy vom Team EF Education-EasyPost die Ziellinie bereits überquert, seine ersten Verfolger ebenso. Lipowitz, der auf Platz 15 ankam, durfte sich dennoch wie einer der heimlichen Sieger fühlen. Schließlich hatte er am finalen Anstieg seinen eigenen Kapitän Primoz Roglic leicht abgehängt.
Roglic verlor fünf Sekunden auf Lipowitz. Auf einer dreiwöchigen Rundfahrt eigentlich kaum der Rede wert. In diesem speziellen Fall aber irgendwie doch. Denn Roglic lag vor dem Start der Etappe in der Gesamtwertung nur eine Sekunde vor Lipowitz. Somit ist Lipowitz nun der am besten platzierte Fahrer des Teams Red Bull-Bora-hansgrohe.
„Ich fand es sehr gut, dass er unten als Erster in den letzten Berg reingefahren ist. Das spricht dafür, dass er sich gut fühlt”, sagte Teammanager Ralph Denk im Tour-Podcast „Inside Red Bull-Bora-hansgrohe“.
Ullrich lobte Lipowitz in höchsten Tönen
Der brisante Hintergrund: In den vergangenen Tagen tauchte immer wieder die Frage nach dem wahren Kapitän des deutschen Rennstalls auf. Spätestens nach dem Zeitfahren auf der fünften Etappe, als Lipowitz starker Sechster wurde und sein enormes Potenzial abermals aufblitzen ließ, wurde dieses Thema noch drängender.
„Ich glaube, der Junge weiß gar nicht, wie stark er ist”, adelte ihn Radsport-Legende Jan Ullrich daraufhin in der ARD und fügte hinzu: „Er hat mich super beeindruckt. Es ist schön zu sehen, dass es aufwärts geht.“ Lipowitz war im Zeitfahren auch 21 Sekunden schneller als der nominelle Kapitän Roglic und erweckte den Eindruck, als sei er besser in Form als der Slowene.
Das Resultat am Mittwoch kam umso mehr überraschend, weil der Kurs des Zeitfahrens angesichts des flachen Profils für klassische Spezialisten gemacht schien. Lipowitz, der Abschnitte mit Hügeln und langen Bergen bevorzugt, überzeugte aber dennoch auf ganzer Linie und sagte im Anschluss selbst: „Dass ich so gut fahren würde, hätte ich nicht gedacht.“
Rolf Aldag, sportlicher Leiter im Red-Bull-Rennstall, wurde deshalb gefragt, ob die Kapitänsfrage neu gestellt werden müsse. Doch der 56-Jährige winkte bisher ab. „Wir sind noch nicht in den hohen Bergen, deshalb werden wir uns verhalten wie bisher“, versuchte Aldag, die Sache schnell abzumoderieren und wollte sich nicht weiter äußern. Die Frage dürfte er jedoch nicht zum letzten Mal gehört haben.
Roglic erneut mit Problemen
Immerhin hatte Roglic auch auf dem sechsten Teilstück wieder Schwierigkeiten und verlor zu Beginn der turbulenten sowie temporeichen Etappe einmal kurz den Anschluss an das Hauptfeld um die großen Favoriten, während sein Teamkollege locker vorne mitfuhr. Bestätigt sich die Tendenz weiterhin, dürfte ein Wechsel kaum zu vermeiden sein.
Auch Ullrich merkte bereits an, dass Lipowitz mit derartigen Leistungen schon bald nach dem Kapitänsamt greifen würde. „Ich glaube, dass er auch in den Bergen vorne mitfahren kann”, betonte er. Wenn der deutsche Hoffnungsträger so weitermacht wie in den letzten beiden Tagen, könnte seine Stunde tatsächlich schlagen.