Wie geht der Schlagabtausch zwischen den großen Favoriten Tadej Pogacar und Jonas Vingegaard bei der 112. Ausgabe der Tour de France (ab Samstag täglich im LIVETICKER) aus?
Warum Voigt an Vingegaard glaubt
Im SPORT1-Interview erklärt die deutsche Radsport-Legende Jens Voigt, warum er Vingegaards Chancen dieses Jahr besser sieht. Außerdem verrät der Eurosport-Experte, welcher Deutsche ums Podium kämpfen kann, und auf welcher Etappe es so richtig zur Sache gehen wird.
Voigt: „Vingegaard wird dichter dran sein an Pogacar“
SPORT1: Herr Voigt, Titelverteidiger Tadej Pogacar gilt auch bei dieser Tour de France als Top-Favorit. Hat sein größter Herausforderer Jonas Vingegaard überhaupt eine realistische Chance auf den Gesamtsieg?
Voigt: Vingegaard wird dieses Jahr dichter dran sein an Pogacar, weil er mehr Zeit hatte, sich vorzubereiten. Sein Sturz bei der Baskenlandrundfahrt hatte ihn letztes Jahr doch schon stark eingeschränkt. Die beiden sind sich in dieser Saison schon beim Critérium du Dauphiné begegnet. Jetzt wissen sie, was der andere kann, und was ihnen selbst noch fehlt. Beide werden in den vergangenen Tagen nochmal an ihren Schwächen im Höhentraining gearbeitet haben.
SPORT1: Welche Rolle spielen die Mannschaftskollegen der Favoriten beim Kampf um das Gelbe Trikot?
Voigt: Du musst zu einem gewissen Zeitpunkt besser sein als dein Gegenüber. Du kannst die Zeit nur allein am Berg oder im Zeitfahren herausfahren. Um diesen Vorsprung dann zu halten, wird die Mannschaft natürlich extrem wichtig.
SPORT1: Was kann Grischa Niermann als sportlicher Leiter von Vingegaards Visma-Team mit einer ausgeklügelten Taktik ausrichten?
Voigt: Schon in der ersten Woche kannst du wichtige Sekunden gewinnen oder verlieren. Grischa ist jemand, der sehr akribisch arbeitet. Die werden sicherlich die Strecke abgefahren sein und mögliche Windkanten-Szenarien genau analysiert haben.
Tour de France: Dieser Deutsche kann ums Podium kämpfen
SPORT1: Florian Lipowitz gilt als riesiges Talent – vielleicht sogar als größte deutsche Hoffnung seit Jan Ullrich. Was erwarten Sie von ihm?
Voigt: Ich glaube tatsächlich, dass Lipowitz um das Podium mitkämpfen könnte. Er muss aber natürlich etwas Glück haben. Er hat mit Primoz Roglic einen ganz klaren Kapitän. Aber für den Fall, dass Roglic nicht kann, wie er möchte, oder durch irgendein Unglück zurückgeworfen wird, ist es keine schlechte Option, Lipowitz schonend durch die erste Woche zu bringen. Er ist noch jung, ich bin sicher, dass er noch nicht sein volles Potenzial ausgeschöpft hat.
SPORT1: Kommt Lipowitz mit dem großen Druck zurecht? Schließlich ist es seine allererste Tour de France.
Voigt: Sein Teamkapitän Roglic hat schon so gut wie alles gewonnen. In seinem Windschatten kann Lipowitz erstmal gut mitrollen. Für ihn kann es nur bergauf gehen. Er sollte sich keinen Stress machen, aber auf keinen Fall ausschließen, dass er am Ende in diese Kapitänsrolle reinrutschen könnte. Die Mannschaft wird ihm helfen. Wenn es ihm schlecht geht, werden sie ihn aufbauen. Wenn er zu ambitioniert ist, werden sie ihm sagen: „Mach mal ruhig, wir haben noch zwei Wochen!“
Buchmann? Das kann sich Voigt „beim besten Willen nicht vorstellen“
SPORT1: Wie sieht es mit den anderen deutschen Startern aus? Haben Pascal Ackermann oder Phil Bauhaus bei den Flachetappen Chancen auf Siege im Massensprint?
Voigt: Pascal Ackermann kann bei einer klassischen Sprinteretappe auf jeden Fall aufs Podest fahren. Bei Phil Bauhaus sehe ich das etwas schwieriger im direkten Zweikampf gegen Biniam Girmay, Jasper Philipsen oder Tim Merlier. Seine beste Chance sehe ich, wenn er es schafft, in größere Spitzengruppen zu kommen. Das wird vor allem in der letzten Tour-Woche ein Thema.
SPORT1: Was trauen Sie Emmanuel Buchmann zu? Nach seinem überraschenden 4. Platz in der Tour-Gesamtwertung 2019 ist es etwas ruhiger um ihn geworden. Kann er als Kapitän von Cofidis vielleicht erneut überraschen?
Voigt: Einen ähnlichen Erfolg wie 2019 kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber natürlich kann er in die Top-Ten fahren oder sich vorne auf einer Etappe ganz stark zeigen. Er hat sich gut bei Cofidis eingelebt und ich glaube schon, dass er da eine neue zweite Heimat gefunden hat.
„Da bleibt kein Auge trocken“
SPORT1: Wie schätzen Sie die diesjährige Streckenführung ein? Durch den Grand Départ in Nordfrankreich geht es erst relativ spät ins Hochgebirge.
Voigt: Schon in der ersten Tour-Woche wird viel passieren. Die Verantwortlichen haben auf so gut wie allen Etappen einen potenziellen Spannungspunkt eingebaut. Bereits auf der 2. Etappe müssen die Teams richtig aufpassen: Da wartet 34 Kilometer vor dem Ziel eine Bergwertung und danach eine dem Wind völlig ausgesetzte Ebene. Da erwarte ich eine Windkanten-Situation, die das Fahrerfeld auseinanderreißen kann. Und auf der 7. Etappe müssen die Fahrer gleich zwei Mal die Mûr-de-Bretagne hoch. Auch da werden manche Favoriten gut aussehen und andere vielleicht zehn, 20 Sekunden verlieren.
SPORT1: Welche Etappen könnten im weiteren Verlauf für die Gesamtwertung am spannendsten werden?
Voigt: Auf der 10. Etappe müssen die Fahrer im Zentralmassiv auf 165 Kilometern 4450 Höhenmeter absolvieren. Im Durchschnitt wartet alle 15 Kilometer ein Berg auf die Fahrer. Da bleibt kein Auge trocken. Wenn einer der Favoriten eine Schwäche zeigt, werden die anderen unfassbar Gas geben, um ihre Gegner zu eliminieren. Wenn es dann auf der 12. Etappe mit den Pyrenäen losgeht, wird es richtig hart. Danach dann das Berg-Einzelzeitfahren. Da werden wir dann vielleicht schon die Podestfahrer eingrenzen können.
SPORT1: Also rechnen Sie mit einer frühen Vorentscheidung?
Voigt: Wenn man sich die vergangenen Jahre ansieht, dann haben die späteren Gesamtsieger relativ früh das Gelbe Trikot übernommen. Der überraschende Einbruch von Roglic beim ersten Triumph von Pogacar beim finalen Einzelzeitfahren 2020 war da ein Sonderfall. Ich glaube, auch in diesem Jahr wird das nicht so sein.
SPORT1: Wie gefährlich ist die diesjährige Tour de France? Es fällt auf, dass es dieses Jahr keine Etappen gibt, welche direkt nach Bergabfahrten enden. Haben die Verantwortlichen etwas aus den vielen folgenschweren Stürzen der vergangenen Jahre gelernt?
Voigt: Das ist glücklicherweise wirklich eine Sache, die jetzt vermieden wird. Dadurch verspüren die Fahrer in der Abfahrt nicht unbedingt diesen Druck, direkt am Hinterrad des Vordermanns zu fahren. Der ASO (Veranstalter der Tour de France) war die Sicherheit der Fahrer aber auch schon immer wichtig. Auf den letzten zehn Kilometern der Etappe entfernen sie großflächig Mittelinseln und Ampeln aus dem Straßenverkehr. Aber natürlich ist Radsport eine Kontaktsportart. Du kannst nicht jedes Risiko vermeiden.