Es war keine Woche wie jede andere: Das Challenger-Turnier in Pau war für den deutschen Tennis-Profi Patrick Zahraj die reinste Achterbahn der Gefühle - mit Happy-End, auch wenn ihm der ganz große Coup letztendlich verwehrt blieb.
Ein deutsches Tennismärchen
Von schlaflosen Nächten, verlorenem Gepäck, über Medikamentenknappheit, bis hin zum Publikumsliebling: Von einem Tennismärchen zu sprechen, wäre noch untertrieben, aber Zahraj hat noch Großes vor sich.
Im exklusiven SPORT1-Interview untermauert der 25-Jährige seine Grand-Slam-Ambitionen. Der amtierende deutsche Meister ist zuversichtlich, in die deutsche Tennis-Elite um Alexander Zverev aufzusteigen. Neben Zverev ist jedoch auch die Dopingposse um den Italiener und Weltranglistenersten Jannik Sinner großer Bestandteil des Gesprächs.
„Ich hatte keine große Hoffnung mehr...“
SPORT1: Glückwunsch zu Ihrem Erfolg in Pau - dem ersten Challenger-Finale Ihrer Karriere. In der Weltrangliste sind Sie über 100 Plätze nach oben geklettert und stehen nun auf Position 313. Wie haben Sie die Woche so erlebt?
Patrick Zahraj: Es war eine sehr spezielle Woche. Ich bin am Freitagabend mit Verspätung angekommen und mein Gepäck war nicht da. Die Fluggesellschaft Air France hat mir netterweise noch ein T-Shirt zum Trainieren bereitgestellt, Schläger musste ich mir ausleihen. Ich hatte keine große Hoffnung mehr, weil die Vorbereitung suboptimal war. Zum Glück sind meine Sachen am Samstagabend doch noch gekommen, meine Schuhe, meine Outfits etc. Dann habe ich mir gesagt: Jetzt, oder nie!
SPORT1: Sie haben allen Widrigkeiten getrotzt und einen Favoriten nach dem Nächsten geschlagen?
Zahraj: Ich bin ohne große Erwartungen rein, habe mich nicht gut gefühlt. Eigentlich lief alles gegen mich. Es kamen große Namen auf mich zu, doch plötzlich stand ich ein ums andere Mal in der nächsten Runde. Damit hätte ich nie gerechnet: Ich musste meinen Flug immer wieder umbuchen und ein neues Hotelzimmer finden. Im Viertelfinale habe ich dann gegen Arthur Fery gewonnen, zu College-Zeiten war er die Nummer eins, da hat der mich noch zerstört. In Wimbledon hat er 2023 knapp gegen Daniil Medvedev verloren. In diesem Match merkte ich auf einmal: Hoppla! Ich kann den Jungs wirklich Probleme bereiten.
SPORT1: Sie sind in Frankreich gewissermaßen vom No-Name zum Publikumsliebling aufgestiegen?
Zahraj: Das Match gegen Fery war erst gegen 22.30 Uhr Ortszeit vorbei. Die ganzen Zuschauer - und auch die Ballkinder - waren tatsächlich alle bis zum Ende geblieben. Damit hätte ich nie im Leben gerechnet. Aus dem Publikum gab es immer wieder „Allez Patrick“-Rufe. Ich habe mit dem Publikum gespielt und sie sind so richtig auf meiner Seite gewesen, das hat sich durch das gesamte Turnier durchgezogen. Ich habe mir nach den Matches jedes Mal Zeit für Autogramme genommen und hatte dabei noch so viel Adrenalin im Körper. Ich habe die ganzen Nächte über kaum geschlafen. Ich bin öfters in nächtliche Unterzuckerung geraten (Zahraj leidet an Typ1-Diabetes, genau wie Alexander Zverev, Anm. d. Red.). Mir ging das Insulin aus, ich wusste gar nicht, was ich machen soll. Glücklicherweise konnte mir ein Balljunge, der ebenfalls unter Diabetes leidet, aushelfen. Ich musste an all die schweren Zeiten denken, die ich durchmachen musste, es war unglaublich emotional.
Deutschlands nächste Grand-Slam-Hoffnung?
SPORT1: Sie haben sich in die Herzen der französischen Fans gespielt und wurden immer weiter angefeuert. Beim Halbfinale hat Ihre Verwandtschaft in Tschechien via Public-Viewing mitgefiebert und Sie bis ins Finale getragen. Dort mussten Sie sich zwar dem französisch-sprechenden Belgier Raphael Collignon geschlagen geben, hatten die Zuschauer aber auf Ihrer Seite ...
Zahraj: Mein Gegner im Finale hat einen kompletten Hals gehabt, der war komplett baff. Er hat die ganze Zeit den Zeigefinger auf seine Lippen gelegt und damit angedeutet, dass die Fans jetzt endlich mal ruhig sein sollen. Es gab Szenen, wo wirklich die gesamte Arena meinen Namen gebrüllt hat, damit hatte er glaube ich nicht gerechnet. Bei der Siegerehrung hat er sich sogar bei den Fans entschuldigt, weil er wusste, dass das Publikum nicht gerade auf seiner Seite war. Wir verstanden uns aber gut, haben uns im Nachhinein angefreundet und sind dann gemeinsam zum nächsten Turnier nach Lugano gereist.
SPORT1: Hätten Sie das Turnier in Pau gewonnen, hätten Sie sich automatisch für die French Open qualifiziert. Was sind Ihre Ziele für den Rest der Saison, sehen wir Sie bald bei einem Grand Slam?
Zahraj: Das ist mir erst am Samstagabend vor dem Finale aufgefallen, auf einmal kam mir plötzlich der Gedanke: ‚Oh mein Gott! Wenn du morgen gewinnst, spielst du bei Roland Garros in Paris mit.' Das musste ich erstmal realisieren. Dazu kommt noch: Hätte ich gewonnen, hätte ich meinen Vater (Radek Zahraj, höchste Weltranglistenplatzierung: 277, Anm. d. Red.) überholt. Er hat mir immer gesagt: „Deutscher Meister interessiert niemanden. Ich nehme dich erst Ernst, wenn du in der Weltrangliste mal vor mir stehst.“ Mein großes Ziel sind auf jeden Fall die US Open zum Saisonende, dort will ich unbedingt dabei sein. Auch in Wimbledon würde ich gerne mitspielen, die French Open wären ein netter Bonus.
Doping-Wirbel: „Ich finde Sinners Strafe falsch“
SPORT1: Titelverteidiger bei den US Open ist der wegen Dopings gesperrte Jannik Sinner. Der Weltranglistenerste hatte sich kürzlich mit der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA auf einen Vergleich geeinigt und einer dreimonatigen Dopingsperre zugestimmt. Der Italiener wurde im vergangenen März positiv auf die verbotene Substanz Clostebol getestet. Was halten Sie von der Strafe?
Zahraj: Ganz ehrlich: Ich finde Sinners Strafe falsch. Im offiziellen Statement der WADA heißt es, man könne Sinner nicht nachweisen, dass er absichtlich gedopt habe und dass seine Leistung dadurch in keinster Weise gefördert wurde. Wenn er wirklich nichts davon wusste und seine Leistung dadurch nicht um einen Prozent gesteigert wurde, dann halte ich die Strafe für nicht gerechtfertigt.
SPORT1: Zahlreiche Kollegen, darunter auch Nick Kyrgios, vertreten eine andere Auffassung. Der Australier sprach sogar von „einem schlechten und traurigen Tag für den Tennissport“. Ist die scharfe Kritik berechtigt?
Zahraj: Ich finde, die Aussagen von Kyrgios und den anderen Gegensprechern gehen wirklich zu weit. Vor Kyrgios habe ich sämtlichen Respekt verloren. Entweder haben sie sich nicht weiter reingelesen und mit der Materie befasst, oder es ist ihre persönliche Meinung. Ich bin da objektiver Betrachter und achte lediglich auf die Faktenlage. Sinner wird durch den Schlamm gezogen, obwohl die Faktenlage das nicht hergibt. Ich finde das aus kollegialer Sicht ziemlich bedenklich und schwach. Wäre die Faktenlage eine andere, dann bin ich der Erste, der etwas sagt - unabhängig davon wie das Sportgericht oder die Gremien entscheiden. Aber wenn man dem nicht glaubt und wie beispielsweise Kyrgios so aktiv dagegenwirkt, dann stellt man unser gesamtes Justizsystem infrage.
SPORT1: Kommen wir zu einem anderen Thema: Sinners ärgster Verfolger Alexander Zverev jagt weiter erfolglos seinem ersten Grand-Slam-Titel hinterher. In den letzten Wochen ist Zverev bei kleineren Turnieren ungewohnt früh ausgeschieden und hat es verpasst, den Abstand auf Sinner weiter zu verkürzen. Glauben Sie, dass Zverev jemals ein Major gewinnen wird?
Zahraj: Auf jeden Fall! Mit seinem Selbstbewusstsein schafft er das bestimmt. Klar hat er einige Chancen liegengelassen, zum Beispiel beim US-Open-Finale gegen Dominic Thiem, aber er kommt ja immer wieder in diese Situationen rein. Er hat zweimal das Turnier der Jahresbesten gewonnen. Es fehlt ihm nicht an Qualität, keineswegs - und außerdem hat er ja noch ein bisschen Zeit. Findet er zu sich, dann wird er einiges Tages definitiv auch eine Grand-Slam-Trophäe in die Höhe strecken.
Das haben Zverev und Zahraj gemeinsam
SPORT1: Zverev leidet - genau wie Sie - an Diabetes Typ1. Wie sehr wird man als Spitzensportler davon beeinträchtigt?
Zahraj: Im Fall Zverev ist das echt schwer einzuschätzen. Ich habe darüber keine Informationen von ihm, oder seinem Team erhalten. Da würde man sich natürlich einen größeren Austausch wünschen. Es gibt zwar mittlerweile spezielle Therapiemöglichkeiten, aber mich beeinträchtigt das schon sehr. Es gibt mindestens zwei bis drei Matches im Jahr, wo mein Körper nicht mitspielt, das muss ich akzeptieren. Manchmal gehe ich grundlos unterzuckert in ein Match rein und kann es nicht beenden. Das ist schwer zu verdauen, aber man lernt seinen Körper immer besser kennen. Ich habe Diabetes seit ich neun Jahre alt bin, besonders der extreme Schweißausbruch stört mich sehr. Auch die Wundheilung dauert bei einem Diabetiker doppelt so lange. Das sind alles Alltagssachen, mit denen man sich befassen muss. Aber wenn man wirklich einen Willen hat, dann findet man meistens auch einen Weg.
SPORT1: Bis auf Alexander Zverev konnte das deutsche Herrentennis zuletzt kaum Erfolge verbuchen. Es kommen kaum junge Spieler nach. Worauf ist das zurückzuführen?
Zahraj: Es muss wieder mehr passieren. Die Turnierlandschaft in Deutschland ist auf ATP-Ebene gewissermaßen verlorengegangen, da sollte man sich an den Nachbarländern orientieren. ATP-Turniere wie Stuttgart und Hamburg haben früher noch der Masters-Serie angehört, sind aber zurückgestuft worden. Deutschland hat den mitgliederstärksten Verband der Welt und das sollte man nach außen auch entsprechend präsentieren.