Plötzlich hallt ein lauter Schrei über den neuen Center Court der BMW Open in München - er stammt aus dem Mund von Diego Dedura-Palomero. Der 17-Jährige hat soeben sein erstes Hauptfeld-Match auf der ATP-Tour gewonnen - und schreibt damit ein kleines Tennis-Märchen.
Ein unverhofftes Tennis-Märchen
Denn eigentlich war das deutsche Nachwuchstalent schon in der Finalrunde der Qualifikation ausgeschieden. Dass er zunächst als einziger der vier Lucky Loser bei der Auslosung leer ausgegangen war, ärgerte Dedura-Palomero sehr: „Jeder hatte eine 75%-Chance. Ich war der Einzige, der draußen geblieben ist, ich war super genervt und super sauer.“
Doch dann folgte doch noch die Glücksnachricht aus Sicht des Deutschen: Da der Franzose Gael Monfils zurückziehen musste, rückte Dedura-Palomero nach: „Alles passiert aus einem Grund im Leben, deshalb war ich super happy und hatte so ein Gefühl, dass ich vielleicht gewinnen könnte, weil ich als Lucky Loser reinkam.“
Und so kam es dann auch. Dedura-Palomero nutzte seine unverhoffte Chance gegen Denis Shapovalov, immerhin die Nummer 29 der Weltrangliste und damit um mehr als 500(!) Ränge höher platziert als sein Gegner. Der Kanadier musste beim Stand von 7:6 (2), 3:0 für den Deutschen aufgeben, was die Leistung von Dedura-Palomero allerdings nicht schmälert. Auf der für ihn noch neuen großen Bühne zeigt er eine abgeklärte Leistung. Von Nervosität keine Spur.
Deutsches Tennis-Juwel schreibt Geschichte
Dedura-Palomero schrieb damit auch Geschichte, denn er ist der erste Spieler des Jahrgangs 2008, der ein Match auf der ATP-Tour gewinnen konnte. Er reiht sich damit in eine Liste klanghafter Namen ein, denen dieses Kunststück ebenfalls als jeweils Erster ihres Jahrgangs gelang: Alexander Zverev, Jannik Sinner und Carlos Alcaraz.
Der 17-Jährige bleibt im exklusiven SPORT1-Interview darauf angesprochen allerdings bescheiden: „Ich kann mich mit den Leuten noch nicht vergleichen. (…) Sinner ist die Nr. 1 der Welt, dann hast du Alcaraz, der die ganze Zeit Grand Slams gewinnt, Zverev ist seit 10 Jahren Top 5 oder so. Das sind Leute, die gewinnen so viel – und ich bin gerade erst am Anfang.“
Für Aufsehen sorgte auch der emotionale Jubel des jungen Deutschen, den er so erklärte: „Falls ich gewinne, bin ich sehr emotionsreich. Ich mag es auszuflippen, die Leute mitzunehmen, emotional nah da zu sein.“
Nach dem Schrei zog er mit dem Schuh noch ein Kreuz quer durch den Münchener Sandplatz und legte sich hinein - eine Dankesnachricht an Gott, wie er erklärte: „Ich bin ziemlich gläubig, ich glaube an Gott - und ich glaube, er hat mir zum Sieg geholfen. Ich habe zuvor noch fünf Minuten gebetet und bin dann auf dem Platz gegangen, habe die ganze Kraft mit ihm mitgenommen.“
Dedura-Palomero nicht die einzige DTB-Hoffnung
Dedura-Palomero ist Teil einer talentierten DTB-Nachwuchsriege, zu der auch sein guter Freund Justin Engel gehört. Während dieser keinen Hehl daraus macht, die Nummer eins der Welt werden zu wollen, gibt sich der ein paar Monate jüngere Blondschopf bezüglich seiner Ziele allerdings eher zurückhaltend: „Ich will so gut wie möglich sein. Die Nummer werden wir am Ende sehen, wie viele Sachen ich gewinnen werde, werden wir sehen.“
Neben seinen wasserstoffblonden Haaren fällt der Teenager auch mit seiner großen Lockerheit auf. Er spricht frei aus dem Bauch heraus und ist trotz des plötzlich großen Rummels um seine Person nicht eingeschüchtert.
Abseits des Platzes sei er aber „ein ziemlich ruhiger Typ“, wie er selbst sagt. Auf dem Court sehe das allerdings anders aus: „Ich sehr ehrgeizig, ich versuche jedes Match zu gewinnen und kämpfe bis zum Ende.“
Diese Kämpfermentalität liegt dem geborenen Berliner in den Genen. Seine Mutter kommt aus Litauen, sein Vater ist Chilene - laut dem Youngster eine „komplizierte Kombination“.
Klares Bekenntnis zu Deutschland
Das bietet die Möglichkeit, dass das Juwel eines Tages unter anderer Flagge spielen könnte – doch Tennis-Deutschland muss sich keine allzu großen Sorgen machen, versichert Dedura-Palomero SPORT1: „Der DTB macht einen super Job, finanziell wie auch mit den Wildcards und alles. Ich verstehe mich super mit denen, Michael Kohlmann (Davis-Cup-Kapitän), mit Petzsche (Jugend-Bundestrainer Philipp Petzschner) - das sind super Jungs, mit denen ich mich super verstehe.“
Die Nachwuchshoffnung gibt sich dabei auch selbstbewusst: „Ich glaube, wenn sie jemand wie mich haben, werden sie den nicht so leicht aus der Hand geben. Deshalb spiele ich bestimmt unter deutscher Flagge weiter. Ich bin hier geboren, das ist mein Land, klar habe ich auch Gene von woanders, aber ich spiele auf jeden Fall für Deutschland.“
Die Dedura-Palermos sind eine echte Tennisfamilie: Beide Eltern sind als Trainer tätig, der Bruder Mariano ist ebenfalls Tennisspieler. Sein Vater ist auf der Tour als fester Coach an seiner Seite.
Beide können sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als die Trainer-Spieler-Beziehung im SPORT1-Interview aufkommt: „Es gibt viel Streitereien. Aber ich muss einfach anfangen, meinen Papa als Trainer auf dem Platz zu sehen und nicht als Papa. Denn wenn ich ihn als Papa sehe, dann werden viele Probleme zustandekommen.“
Youngster eifert Tennis-Ikone Nadal nach
In turnierfreien Wochen schlägt Dedura-Palomero regelmäßig auch Bälle an der Akademie von Rafael Nadal in Manacor. Der 22-malige Grand-Slam-Sieger ist das große Vorbild des Deutschen, der nach eigener Aussage alle seine Matches auswendig kennt und mit dem Lieblingsbelag Sand, der linken Schlaghand und dem Stirnband in den Haaren zumindest in Teilen an Nadal erinnert.
Zwar möchte er sich nicht mit einer Ikone wie Nadal vergleichen, doch ein paar Ähnlichkeiten sieht er: „Die Vorhand mit Spin kann man mitnehmen. Die Beinarbeit würde ich noch sagen – aber er ist so viel besser, ist ja einer der drei Ziegen (GOAT: Greatest of all time, Anm. der Redaktion), er ist einfach unfassbar.“
Zu einer Karriere wie Rafael Nadal ist es noch ein weiter Weg. Dennoch zeigt Dedura-Palomero bereits viel Potenzial. Luft nach oben gäbe es laut ihm aber noch bei Volley und Aufschlag. Letzteres kommt bei 1,80 Meter Körpergröße nicht sonderlich überraschend.
Laut einem Test, den das Talent in Chile gemacht hat, sollen bei dem Linkshänder noch drei bis vier Zentimeter in der Größe hinzukommen, „die auf alle Fälle helfen (werden), gerade beim Aufschlag. (…) Aber dazu gehört auch harte Arbeit.“
Durch seinen Erstrunden-Erfolg in München macht Dedura-Palomero fast 200 Plätze in der Weltrangliste gut und wird ab der kommenden Woche mindestens auf Rang 376 stehen. Und wer weiß, womöglich schafft er gegen den Belgier Zizou Bergs eine weitere Überraschung.
Ein weiterer lauter Jubelschrei dürfte bei seinem Potenzial jedenfalls nur eine Frage der Zeit sein.