Von einem aufs andere Bein hopsend reckte Annett Kaufmann die Zeigefinger in die Luft. Zur Polonaise an der Promenade von Zadar fassten sich die DTTB-Frauen nach ihrem EM-Sieg in Bademänteln und Adiletten an den Schultern - und Kaufmann tanzte vorneweg.
Wird sie nun sogar der Weltmacht gefährlich?
Mit 19 schon die Galionsfigur
Im Sing-Sang zum Mallorca-Hit „Der Zug hat keine Bremse“ war die Symbolik nicht zu übersehen: Unaufhaltsam rollte der Europameister-Express in Kroatien zum Titel - mit Kaufmann als Lokomotivführerin.
„Alles dreht sich um Annett - aber es funktioniert“
„Die Mannschaft muss sich daran gewöhnen. Alles dreht sich um Annett, Annett, Annett. Aber das funktioniert bis jetzt ganz gut“, sagte Tischtennis-Bundestrainerin Tamara Boros nach dem Finale.
Und tatsächlich: Bereits mit 19 Jahren gibt die gebürtige Wolfsburgerin den Takt im deutschen Tischtennis vor und füllt damit eine Lücke, die der Abgang von Timo Boll gerissen hat. Als Erste erscheint Kaufmann bei Interviews, als Erste nimmt Kaufmann den Pokal entgegen. Medial und teamintern hat sie den Status als Führungsspielerin inne.
Und Kaufmann, das Ausnahmetalent, bestätigt ihr Dasein als Galionsfigur des deutschen Tischtennis mit Leistung. In Kroatien verlor sie kein einziges Match, selbst Europas beste Einzelspielerin Bernadette Szocs brach diese Dominanz nicht.
Kaufmanns Teamkolleginnen profitieren im Windschatten
Das Scheinwerferlicht wirft zudem einen Schatten, in dem auch das restliche Team zu wachsen scheint: Die immer wieder vom Pech verfolgte Nina Mittelham kam aufgrund von Bandscheibenproblemen praktisch ohne Spielpraxis zur EM, trotzdem gewann sie jedes ihrer vier Matches.
Nicht minder beachtlich ist Sabine Winters Entwicklung, die mit einem Wechsel der Spielweise zuletzt ein Wagnis einging und in Zadar dennoch brillierte. „Ich bin sehr dankbar für dieses Team“, sagte Kaufmann nach dem Titelgewinn.
So abgeklärt Kaufmann an der Platte wirkt, so nahbar und authentisch präsentiert sie sich abseits davon. Wer ihre Social-Media-Kanäle durchstöbert, findet neben Tischtennis und Teamtänzen vor allem Persönliches. Breit grinsend erzählt sie auf Instagram, welche Superkraft sie gerne hätte - oder dass sie Lionel Messi gegenüber Cristiano Ronaldo präferiert.
„Kann für die Asiatinnen sehr gefährlich werden“
Bis Olympia 2024 in Paris war sie selbst ja auch ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Kaufmann wurde damals nachnominiert, der Weg führte dann bis ins Halbfinale. Auch da zeigte Kaufmann schon erstaunliche charakterliche Reife und Führungsqualität - unter anderem war auch ARD-Moderator Alexander Bommes spürbar baff.
Prompt wurde sie medial zur Tischtennis-Erbin von Boll aufgebaut, Kaufmann wies das aber stets von sich. „Ich möchte meinen eigenen Weg gehen, in meinem Tempo und gar nicht in diesen Vergleich rein“, sagte sie im Olympia-Nachgang.
Sollte der viel besungene Zug allerdings tatsächlich keine Bremsen haben, wird Kaufmann dem Vergleich vorerst nicht entkommen. Zu kometenhaft ist ihr Aufstieg bislang. Die Tischtennisszene, deren Machtmonopol in China liegt, hat Kaufmann jedenfalls längst auf dem Zettel. „Annett kann für die Asiatinnen wirklich sehr gefährlich werden“, blickte Bundestrainerin Boros schon voraus.
Als Europäer gelang das zuletzt einem gewissen Timo Boll - und der freute sich am Sonntag auf Instagram gleich mit: „Glückwunsch zu Gold! Das war stark!“