Man stelle sich einmal vor, Martin Ödegaard, zentrale Stütze im Mittelfeld des FC Arsenal und immerhin Vizemeister der englischen Premier League, kommt auf die Idee einer Luftveränderung und entscheidet sich kurzerhand für einen Wechsel zum 1. FC Köln oder Hamburger SV. Klingt komisch? Ist es auch. Es wäre nicht weniger als ein Szenario, das unvorstellbar und kaum sinnvoll zu erklären erscheint.
Fußballtransfers: Xhaka-Hammer! Wie aus einem Paralleluniversum
Wie aus einem Paralleluniversum
Doch was wäre, wenn ein Leader eines Top-Klubs den umgekehrten Weg einschlägt und von der letztjährigen Nummer zwei in Deutschland zu einem Neuling auf der britischen Insel abwandert? Dann hört sich ein solcher Transfer zwar immer noch wie einer aus einem Paralleluniversum an, hat aber plötzlich eine realistische Ebene. Grund dafür ist Granit Xhaka, der diesen Schritt Wirklichkeit werden ließ und von Leverkusen nach Sunderland ging. Kein Scherz.
Xhaka war der Leitwolf der Werkself. Derjenige, der das Team auf dem Platz dirigierte und in der Kabine die Chefrolle einnahm. Jetzt ist nach Florian Wirtz, Jeremie Frimpong (beide Liverpool) und Jonathan Tah (FC Bayern) der nächste Eckpfeiler weg. Aber nicht etwa, weil eine europäische Top-Adresse rief, sondern weil ein Verein anklopfte, der acht Jahre lang nicht erstklassig spielte. In Deutschland sorgte das größtenteils für Verwunderung. Was also steckt dahinter und wie wird der Transfer andernorts gesehen – vor allem in seiner Heimat?
„Xhaka hat in Leverkusen alles erreicht“
Einer, der den 32-Jährigen schon seit geraumer Zeit verfolgt, ist Christian Finkbeiner, stellvertretender Leiter Fußball der Schweizer Tageszeitung Blick. Über Sinn und Unsinn lässt sich bekanntlich streiten. Doch im Gegensatz zur Sicht vieler deutscher Fans sei der Schritt seines Landsmanns für ihn nachvollziehbar, verriet er bei SPORT1: „Xhaka hat in Leverkusen alles erreicht und sein großer Mentor Xabi Alonso verließ den Verein, ebenso wie viele weitere Stützen der Meistersaison.“ Zudem habe Xhaka früh betont, den Neuaufbau nicht unbedingt mitmachen zu wollen.
„Ich denke, für ihn war Xabi ‚der perfekte Trainer‘. Zusammen haben sie in den vergangenen beiden Jahren mehr gewonnen, als sie es sich 2023 hätten vorstellen können. Und bei Xhaka stellte sich die Frage: Was kann ich hier noch holen? Ich glaube, dass neben andere Aspekten wie der finanziellen und familiären Situation einfach die Erkenntnis gereift ist, dass seine Mission in Leverkusen erfüllt ist und er nochmal eine komplett neue Herausforderung möchte“, fügte Finkbeiner hinzu.
Gleichzeitig könne sich Finkbeiner vorstellen, dass der neue Bayer-Coach Erik ten Hag „durchaus eine Rolle“ bei Xhakas Entscheidung gespielt habe. Wie die Sport Bild passend dazu berichtete, habe es dem Schweizer bei Bayer an Wertschätzung gemangelt. Denn ten Hag brauchte nach seinem Amtsantritt ganze drei Wochen, um sich bei Xhaka zu melden. Als der Niederländer dann erstmals in der Öffentlichkeit über ihn sprach und ihm ein Wechselverbot erteilen wollte, war es bereits zu spät und die Würfel pro Sunderland gefallen.
„Das Projekt Sunderland tönt durchaus interessant“
Warum ausgerechnet Sunderland? „Klar gibt es klangvollere Namen“, sagte Finkbeiner, „man muss aber bedenken, dass Xhaka für sein Alter relativ viel Ablöse kostet – 20 Millionen Euro –, was offenbar viele Klubs abschreckte.“ Zuvor wurde der Mittelfeldspieler unter anderem mit der AC Mailand, Galatasaray und dem SC Neom aus Saudi-Arabien in Verbindung gebracht. „Das Projekt Sunderland tönt allerdings durchaus interessant, selbst wenn sie nicht international spielen werden.“
Schließlich sind die 1897 gegründeten „Black Cats” einer der traditionsreichsten Fußballklubs, die 2018 auf besondere Weise neue Berühmtheit erlangten. Die Netflix-Serie „Sunderland ’til I die” begleitete den Verein beim Absturz in die Drittklassigkeit. Nun sind sie wieder zurück und wollen im Haifischbecken Premier League bestehen. Mit Noah Sadiki, Chemsdine Talbi, Enzo Le Fée, Habib Diarra und Simon Adingra holte Sunderland dafür neue, junge Spieler an Bord. Diese soll Xhaka an die Hand nehmen.
Weshalb sich Xhaka aber im fortgeschrittenen Sportleralter nicht mehr für einen Umbruch bei Bayer bereit sah, ein Neuaufbau in England jedoch plötzlich möglich ist, bleibt wohl sein Geheimnis. Im Rheinland stieß das jedenfalls auf wenig Freude. Die Pressemitteilung zum Wechsel des Schweizers umfasste lediglich zwei Absätze – kürzer ging es kaum. Ein deutliches Zeichen dafür, dass es hinter den Kulissen gewaltig rumorte und der Vizemeister sich sehr über die Vorgänge ärgerte.
„Die Premier League ist eben die stärkste Liga der Welt“
Ein Grund: Xhaka und sein Vater Ragip hatten in den vergangenen Wochen jede sich bietende Gelegenheit genutzt, um öffentlich einen neuen Arbeitgeber für ihn zu suchen. Ein Verbleib in Leverkusen wäre dadurch kaum noch vorstellbar gewesen, sodass ein Wechsel der logische Ausweg war. Für Xhaka bedeutet das allerdings: wahrscheinlicher Abstiegskampf in Sunderland statt Champions League mit der Werkself. Rein sportlich Rückschritt, der selbst unter den genannten Aspekten seltsam bleibt.
Möglich macht es allein die Finanzkraft der Liga – und natürlich die schier magische Anziehung, über die Englands höchste Spielklasse augenscheinlich verfügt. „Aus Sicht der deutschsprachigen Schweiz ist die Bundesliga immer sehr attraktiv und für viele Spieler ein großes Ziel”, hob Finkbeiner hervor. „Aber natürlich: Die Premier League ist eben die stärkste Liga der Welt.“ Deshalb glaubt er, dass der Transfer mit ein bisschen Abstand auch bei Bayer anders gesehen wird.
„In Leverkusen wird er rückblickend einen Ehrenplatz bekommen, selbst wenn viele Fans seinen Abgang jetzt nicht unbedingt goutieren. Am Ende hatte er aber einen erheblichen Anteil an der Traumsaison 2023/24“, sagte Finkbeiner. Unvergessen, keine Frage. Doch fortan geht es um die Gegenwart. Xhakas Qualitäten und Führungsstärke zu kompensieren wird in Leverkusen – gerade angesichts der vorherigen Verluste von Wirtz, Frimpong und Tah – zu einer Mammutaufgabe.