Das Thema Erwartungshaltung ist oft ein sehr diffiziles. Verpflichtet der Klub einen neuen Spieler, der sofort eine große Wirkung auf das Team haben soll, ist diese schon automatisch hoch. Soll der Protagonist dann auch noch der neue Rekordtransfer und Nachfolger des vielleicht besten Akteurs werden, der jemals das Trikot des Vereins trug, können sie erst richtig ins Extreme schießen. Einer lernt das womöglich bald in Leverkusen kennen: Malik Tillman.
Der perfekte Wirtz-Erbe?
Sein Transfer zu Bayer wurde am Samstag offiziell verkündet. Doch schon, als sich in den vergangenen Wochen die Nachricht verbreitete, dass die Rheinländer hinter die Personalie Tillman allmählich einen Haken setzen dürfen, häuften sich in den Onlinemedien die Meldungen mit einem sehr ähnlichen Tenor. Die Schlagzeilen reichten von „Wirtz-Erbe gefunden“ bis „Leverkusen holt Wirtz-Nachfolger“. Eine keinesfalls zu unterschätzende Bürde des kostspieligen Deals.
Tillman wurde beim FC Bayern ausgebildet
Laut verschiedenen Berichten hat die Werkself eine mindestens 35 Millionen Euro teure Ausstiegsklausel von Tillman an die PSV Eindhoven überwiesen und den Spielmacher mit einem bis 2030 datierten Arbeitspapier ausgestattet. Nie zahlte Bayer mehr für einen Spieler. Bleibt die entscheidende Frage: Ist der 23-Jährige schon gut genug, um die große Lücke zu füllen, die Florian Wirtz hinterlässt? Oder wie plant der Verein?
Zu allererst ist klar: Die Kompensation des Wirtz-Abgangs stellt einen der zentralen Punkte im Umbruch dar. Und was dafür spricht, dass Bayer einen guten Fang macht, sind zum einen Tillmans Scorerpunkte, die natürliche Währung eines Offensivspielers. In den letzten zwei Jahren gelangen ihm in Eindhoven 25 Tore und 19 Assists, das entspricht einer Torbeteiligung alle 109 Minuten. Vor dem Kasten agierte er oft eiskalt. Zum Vergleich: Wirtz war im gleichen Zeitraum alle 99 Minuten an einem Treffer beteiligt. Keine riesige Differenz.
Tillman wurde beim FC Bayern ausgebildet
Zum anderen wusste der 22-malige US-Nationalspieler auch in der Champions League, dem höchsten europäischen Level, über weite Strecken der Saison zu überzeugen. Dort verbuchte Tillman drei Treffer und zwei Vorlagen in sechs Spielen, bevor er in den Playoffs und im späteren Achtelfinale wegen einer Verletzung ausfiel. Eine ebenso beachtliche Quote für den Mann, der ab 2015 beim FC Bayern ausgebildet wurde und es anschließend über eine Leihe bei den Glasgow Rangers nach Eindhoven schaffte.
Dennoch ist unbestritten, dass Florian Wirtz nicht eins zu eins zu ersetzen ist. Wohl nicht einmal ansatzweise. In Leverkusen predigten die Bosse immer wieder, den Abgang ihres Schlüsselspielers auf mehreren Schultern verteilen zu wollen. Einen gewichtigen Teil soll Tillman dabei aber sehr wohl übernehmen. Mit Qualitäten, die teilweise ähnlich zu denen von Wirtz sind. Und mit Fähigkeiten, die ihn mitunter deutlich vom Nationalspieler unterscheiden.
Eine Gemeinsamkeit: Wie Wirtz ist auch der ehemalige Bayern-Spieler auf fast jeder Offensivposition einsetzbar, unter anderem als zentraler Mittelfeldspieler, Zehner oder Linksaußen. Zudem verfügen beide über eine gute Technik, Dribbling-Fähigkeiten und Übersicht. Die gefühlte Perfektion des Leverkusener Rekordabgangs erreicht Tillman zwar (noch) nicht, doch auf einem hohen Niveau spielt er zweifellos. So können beide das Geschehen auf dem Rasen kreativ gestalten, Vorlagen liefern und Tore selbst erzielen.
Rangers und PSV halfen Tillman sehr
Gerade die vergangenen beiden Stationen brachten Tillman in seiner Entwicklung wesentliche Schritte voran. Seine Zeit in Eindhoven war vor allem für seine spielerische Entwicklung wichtig. Bei den Rangers holte er sich zuvor die nötige Härte und Galligkeit in Zweikämpfen. Mittlerweile weiß er sich auch physisch zu behaupten. Mit einer Größe von 1,87 Metern hat er im Vergleich zu Wirtz ohnehin körperliche Vorteile. In der Vorsaison gewann er 57 Prozent der Zweikämpfe am Boden und 72 Prozent der Duelle in der Luft.
Ein sehr bedeutsamer Punkt. Denn Wirtz wurde in Leverkusen für seine konsequente Arbeit gegen den Ball und seinen läuferischen Einsatz sehr geschätzt. Aber während der zum FC Liverpool gewechselte Profi mehr für seine präzisen Pässe und seine Fähigkeit, Räume zu schaffen, bekannt ist, fällt Tillman eher durch seine Athletik und seine enorme Dynamik in den einzelnen Aktionen auf. Darüber hinaus kann er mit präzisen Distanzschüssen oder Kopfbällen für Gefahr sorgen, da er konsequent in den Strafraum einläuft.
Tillman muss sich in der Bundesliga noch beweisen
Andererseits steht außer Frage, dass alle Daten und vorher gezeigten Leistungen von Tillman nur bedingt mit denen von Wirtz vergleichbar sind. Die schottische Premiership und die niederländische Eredivisie sind vom Gesamtniveau recht deutlich unter der Bundesliga angesiedelt. So muss Tillman den Nachweis, regelmäßig auf höchstem Niveau performen zu können, erst noch erbringen und seine Stabilität im Spiel verbessern. Von heute auf morgen geht das nicht.
Bedeutet also: Tillman besitzt großes Potenzial, muss aber noch an einigen Aspekten arbeiten, um an Wirtz heranzukommen. Bleibt aus Sicht der Werkself zu hoffen, dass ihn sein Preisschild dabei nicht hemmt. Die Fußstapfen sind riesig, die Hoffnungen ebenso. Aber schon Bayers letzter Rekordmann, Kerim Demirbay, der 2019 für 32 Millionen Euro aus Hoffenheim kam, konnte die Erwartungen nie erfüllen. Diesmal stößt Tillman in neue Dimensionen vor.