Es hatte durchaus etwas Süffisantes. Ausgerechnet am bislang heißesten Tag des Jahres war Eishockey das prägende Thema in der Sportstadt Boston. Das Thermometer zeigte am Donnerstag 32 Grad Celsius in der Massachusetts-Metropole an, doch bei vielen Einwohnern ging es nicht um Beach, Bier oder einen kühlenden Bootsausflug auf dem Charles-River, sondern um die Boston Bruins.
Plötzlich Thema Nummer eins
Die hatten am Vormittag, um kurz nach 9 Uhr Ortszeit, das offiziell gemacht, was seit Tagen schon ziemlich öffentlich diskutiert wurde: Marco Sturm ist der neue Chefcoach der Braunbären - der 30. in der mittlerweile 101-jährigen Geschichte von Amerikas ältestem NHL-Verein.
„Coole Sache. Ich freue mich persönlich sehr für ihn“, sagte Dennis Seidenberg SPORT1. Er kennt Sturm noch als Mitspieler aus der Nationalmannschaft und bei den Bruins, sowie als späteren Nationaltrainer. „Marco hat als Spieler immer 100 Prozent gegeben, war immer konstant, man konnte sich immer auf ihn verlassen“, lobt Seidenberg.
Und all diese Eigenschaften habe Sturm auch in seine Arbeit als Trainer übernommen. Die Bruins-Profis könnten sich daher auf einen Trainer „freuen, der ehrlich sein wird, sehr gut kommuniziert und einfach eine sehr gute Person“ sei, betont Seidenberg.
„Ist Sturm der Anführer, den sie brauchen?“
Die Reaktionen auf Sturms Verpflichtung in Boston waren hingegen eher lauwarm. Unspektakulär. Wie könne sich jemand tatsächlich über diese Verpflichtung freuen, hieß es beim meist gehörten Sportradio-Sender der Stadt, 98,5 - The Sports Hub am Nachmittag. Die Tageszeitung Boston Globe schrieb von einer „entscheidenden Zeit für die Bruins. Ist Marco Sturm der Anführer auf der Bank, den sie brauchen?“ - und gab die Antwort gleich selbst: „Wir werden sehen.“
Sturm „könnte der richtige Coach sein“, war am Abend die etwas vorsichtige Meinung in der 30-minütigen TV-Sendung Boston Sports Tonight. Eines indes musste nicht geklärt werden - wer denn dieser Marco Sturm eigentlich sei. Denn der Bayer ist in Boston bestens bekannt, trug zwischen 2005 und 2010 in insgesamt 302 Spielen das Bruins-Trikot, war in dieser Zeit mit 106 Toren und 87 Vorlagen einer der Leistungsträger in der Offensive. Bei NBC Boston war deshalb von einem „vertrauten Gesicht“ zu lesen.
Aber was hat er bislang als Trainer geleistet? In welcher Liga hat Sturm überhaupt gecoacht? Was für eine Philosophie hat er? Und was sagt seine Verpflichtung eigentlich über den Status Quo der Bruins aus, wenn ein Novize ohne jegliche NHL-Cheftrainer-Erfahrung künftig das Sagen haben wird?
Traditionsteam am Boden
Fakt ist: Die einst so laut brüllenden Braunbären, die 2022/23 noch neue NHL-Allzeit-Hauptrunden-Rekorde für Siege (65) und Punkte (135) aufgestellt hatten, sind zu harmlosen Hamstern geworden. Sie hatten in der abgelaufenen Saison erstmals seit 2016 die Playoffs verpasst, mit 33 Siegen so wenig Spiele gewonnen wie seit 2005/06 nicht mehr und ihre Division als Letzte beendet. Kurzum: Diese Bruins sind am Boden. Tiefer geht’s nicht.
Und welch gestandener Coach habe deshalb schon Lust, hier zu arbeiten? Zumal der Kader keine baldige Verbesserung in Aussicht stelle, diskutierten sie bei 98,5 - The Sports Hub, und kamen zu der Vermutung, dass Sturm womöglich gar der Einzige gewesen sei, der sich diese Bruins antun wolle. Vor allem, da er als NHL-Neuling, „wahrscheinlich für wenig Geld zu haben“ gewesen sei.
Dass Sturm Deutschland als Trainer sensationell zu Silber bei den Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang geführt hatte, ist in Boston zweitrangig. Denn bei den Spielen vor sieben Jahren waren keine NHL-Profis dabei, die Liga hatte ihnen eine Teilnahme untersagt. Das schmälert Sturms Erfolg in der Heimat freilich kein bisschen, lässt die Medaille an seiner neuen Wirkungsstätte dennoch eher etwas blechern anmuten.
„Boston”, sagt Seidenberg, „ist schon einer der top Eishockey-Standorte“. Die Aufmerksamkeit der Medien sei groß, der Eishockey-Verstand der Fans ebenso. Der ehemalige Verteidiger hatte von 2010 bis 2016 hier gespielt, war beim Gewinn des Stanley Cups 2011 eine der unverzichtbaren Säulen gewesen. “Wenn du Trainer bist, willst du, glaube ich, in einer Stadt wie Boston trainieren”, betont der Ex-Bruin.
Zumindest, so der Tenor von Fans und Fachpresse am Donnerstag in Boston, scheine Sturm ein Händchen dafür zu haben, Talente zu entwickeln. Drei Jahre hatte er zuletzt als Trainer der Ontario Reign gearbeitet, dem Nachwuchsteam der Los Angeles Kings in der zweitklassigen American Hockey League. Er könne also etwas aufbauen. Und die Bruins, so hart das für die erfolgsverwöhnten Bostonians auch klingen mag, sind ein Verein, der dringend einen Neuaufbau braucht.