Mit Platz vier im Medaillenspiegel hat das deutsche Biathlon-Team bei der am Sonntag abgelaufenen WM in Lenzerheide in etwa die in sie gesteckten Erwartungen erfüllt. Dabei war es vor allem Franziska Preuß zu verdanken, dass die DSV-Mannschaft halbwegs zufrieden die Rückreise aus der Schweiz antreten konnte.
„Wahnsinn, was der alles geleistet hat“
Überstrahlt wurden die Titelkämpfe vom französischen Team, das mit 13 Medaillen - sechs davon aus Gold - sogar die frühere Übermacht aus Norwegen in die Schranken wies.
Im SPORT1-Interview spricht der frühere Weltklasse-Biathlet Michael Rösch, der die WM als Eurosport-Experte begleitete, über seine Eindrücke aus dem Schweizer WM-Ort - und nimmt dabei vor allem das deutsche Team unter die Lupe.
SPORT1: Herr Rösch, hat die überragende Franziska Preuß die deutsche Bilanz ein wenig geschönt?
Michael Rösch: Franzi hat natürlich mehr zu den Medaillen beigetragen als andere, aber ich würde jetzt nicht sagen, dass sie die Bilanz geschönt hat. Es ist einfach positiv zu sehen, dass Deutschland solch eine Athletin hat. Es gab schon immer jemanden, der mit vielen Medaillen herausgestochen hat, sei es zum Beispiel Laura Dahlmeier oder Magdalena Neuner. Da kann man genauso Johannes Thingnes Bö nehmen, der Norwegen gerettet hat. Der wichtige Aspekt aus deutscher Sicht ist für mich, dass es nach langer Zeit mal wieder gelungen ist, in drei Disziplinen eine Medaille zu gewinnen: in der Mixed-Staffel, der Single-Mixed-Staffel und in der Staffel der Männer. Aber klar, am Ende sticht Franzi heraus.
„So ein Kämpferherz kann man nicht trainieren“
SPORT1: Wie sehr freuen Sie sich für Preuß, dass sie abliefern konnte?
Rösch: Mich freut es unheimlich für sie. Man hat gesehen, als sie die eine oder andere Träne verdrückt hat, wie viel Druck und wie viel Last auf ihren Schultern lag. In dieser Konstellation als Gesamtweltcup-Führende anzureisen, ist nicht so einfach gewesen, aber sie hat das perfekt geschafft, die Leistung aus dem Weltcup in die WM zu übertragen, vor allem am Schießstand. Das war sehr beeindruckend.
SPORT1: Zumal sie bei den vergangenen Großereignissen krankheitsbedingt oft ausgebremst wurde...
Rösch: Sie hat 2015 im Massenstart ihre letzte Einzel-Medaille gewonnen – jetzt ist sie Weltmeisterin! Man hat es ja gesehen, wie viele Menschen nach der ganzen Tragödie zu ihr gekommen sind und sie beglückwünscht haben. Jeder hat es ihr gegönnt. Ich habe ihr damals 2022 eine WhatsApp geschickt, wo ich geschrieben habe: ‚Nie aufgeben, irgendwann kommt der Tag!‘ Sie hat geantwortet: ‚Ich habe gerade überhaupt keinen Bock auf Biathlon‘ - das war zu den Olympischen Spielen, wo sie wieder krank war und gerade noch eine Staffel-Medaille mitnehmen konnte. Da war sie mental echt down. So ein Kämpferherz kann man nicht trainieren, das muss man haben - und das hat sie.
SPORT1: Wie bewerten Sie den Auftritt der deutschen Talente Selina Grotian, Julia Tannheimer und Johanna Puff?
Rösch: Für Selina tut es mir leid, weil es einfach nicht ihre WM war, was sich vor allem am Schießstand gezeigt hat. Sie hatte liegend eine Trefferquote um die 60 Prozent, was absolut nicht ihrem Können entspricht. Für sie ist es maximal dumm gelaufen. Das muss man aber akzeptieren, dass es nicht ihre WM war. Bei ihr sehe ich überhaupt nicht schwarz, sie hat mit 21 Jahren noch alle Zeit der Welt. Julia Tannheimer war mit ihren 19 Jahren letztlich zum Lernen dabei. Sie hat viele Situationen hier zum ersten Mal in ihrer Karriere auf so einer großen Bühne erlebt - und dafür hat sie sich wacker geschlagen, vor allem läuferisch. Johanna Puff hat ein gutes Einzel hingelegt, am Schießstand war sie sogar sensationell. Läuferisch hatte sie keine Chance, weil sie im Vorfeld sehr krank war und zwei bis drei Wochen nur im Bett lag. Dann kannst du die Saison eigentlich herschenken. Von daher hat sie das gut gemacht und es war für sie auch ein schönes EM-Debüt.
„Die Französinnen sind krass“
SPORT1: Bei den Männern sieht das Bild dagegen anders aus. Haben sie den Anschluss an die Weltspitze mittlerweile verloren?
Rösch: Ich hatte schon im Vorfeld der Saison gesagt, dass man zufrieden sein muss, wenn es jemand hier und da mal aufs Podest im Weltcup schafft. Das haben sie mit Danilo Riedmüller und Philipp Nawrath auch geschafft, aber das Problem liegt in der Breite. Läuferisch sind über die Saison auch noch Philipp Horn und Simon Kaiser zu nennen, die mit der Weltspitze in Ansätzen mithalten können, aber am Schießstand teilweise Kraut und Rüben geschossen haben. Vor allem der Sprint war enttäuschend, einzig Nawrath hatte eine Medaillenchance. Ansonsten war das schon eine Klatsche, zumal das Verfolgungsrennen ja noch dran hängt. Da hat nur Horn überzeugt, der aber mit zu viel Rückstand ins Rennen ging. Alles in allem waren die Laufrückstände schon hoch. Auch wenn man sich den Nachwuchs anschaut, dann gibt es sehr gute Biathleten, aber ein Supertalent fehlt aktuell.
SPORT1: Welche Gründe hat das?
Rösch: Ich denke nicht, dass die Nachwuchsarbeit in Deutschland so schlecht ist, aber wenn man Norwegen als Beispiel nimmt, dann ist der Sport gesellschaftlich ganz anders angesehen und die Kinder fang schon viel früher damit an. Bei den Franzosen hat sich das über die Jahre mit den Erfolgen auch eingeschlichen, dass plötzlich alle Biathlon machen wollen. Das Fernsehformat von L‘Équipe hat da sehr viel beigetragen. Es gibt mittlerweile nationale Wettbewerbe, da sind über Tausend Jugendliche am Start. Dadurch haben sie eine viel größere Auswahl an guten Talenten.
SPORT1: Vor allem bei den Frauen fiel eine fast schon beängstigende französische Dominanz auf...
Rösch: Die Französinnen sind krass. Das ist ähnlich wie bei den Männern in Norwegen. Da sind auch im B-Kader viele, die so gut sind und jeden Tag ihre Leistung bringen müssen. Druck erzeugt Wärme, da entsteht etwas. Dazu kommt, dass die Trainer daheim an den Stützpunkten bei der Grundausbildung einen super Job machen. Es gibt aber auch Enttäuschungen, siehe Justine Braisaz-Bouchet im Massenstart, die Gold vor der Nase gehabt hat, oder Lou Jeanmonnot, die keine Goldmedaille gewonnen hat. Julia Simons Erfolge haben das ein bisschen kaschiert. Es ist unheimlich schwierig, jeden Tag auf diesem hohen Niveau Leistung zu zeigen. Das gelingt den Französinnen aber durch die Breite. Die haben so viele Mädels, die da vorne reinlaufen können...
„Für mich ist Bö der GOAT“
SPORT1: Johannes Thingnes Bö hat sich triumphal von der großen Bühne verabschiedet. Wo reiht er sich in der Liste der besten Biathleten ein?
Rösch: Für mich ist Bö der GOAT, weil er mittlerweile so viele Rekorde geknackt hat. Er hat jetzt die meisten Einzel-Goldmedaillen, die meisten Goldmedaillen insgesamt und die meisten WM-Goldmedaillen in den Staffeln. Das Einzige, was ihm jetzt noch fehlt, sind die 95 Siege von Ole Einar Björndalen. Da habe ich noch die Hoffnung, dass er es vielleicht schafft. Es gibt noch sieben Einzelrennen, also kann er eines verhauen, dann wäre er immer noch in der Lage, das zu schaffen. Das wäre mein Traumszenario, mein Drehbuch, wenn er beim letzten Rennen vor dem Massenstart 95 Siege gesammelt hat und das letzte Rennen entscheidet. Das wäre krass. Es ist Wahnsinn, was der Typ alles geleistet hat. Es zeichnet ihn aus, ein Jahr vor Olympia - auf dem Peak - für die Familie aufzuhören.
SPORT1: Was ist Ihnen sonst noch von der WM hängen geblieben?
Rösch: Sportlich vor allem Campbell Wright mit seinen zwei Silbermedaillen - der neuseeländische US-Amerikaner. Das ist auch so ein geiler Typ, der hat Format, den könntest du ein Jahr lang begleiten, da könntest du eine Netflix-Serie draus machen. Er hat gesagt: ‚Ihr müsst nicht Freestyler oder Ski-Alpin-Fahrer werden, Biathlon ist auch ganz cool‘. Er hat viele Herzen gewonnen, auch bei den Interviews. Das hat mich teilweise weggehauen, was der für Aussagen rausgepfeffert hat. Das ist schön zu sehen, dass auch so ein Underdog Medaillen holen kann.